Es lag für uns ein besonderer Anlaß vor, uns mit dem Blättchen des Herrn A. Niemojewski zu befassen. Er schickte uns nämlich ein Heft zu, das von solchen Unflätigkeiten strotzt, mit einem Begleitschreiben, in dem er einen seit zwei Jahren in der deutschen Parteipresse tätigen polnischen Genossen moralischer Delikte anklagt. Da er behauptet, hierbei auf Wunsch eines im Auslande erscheinenden polnischen Parteiblattes zu handeln, so können wir nicht umhin, an die Adresse des letzteren folgende Bemerkungen zu richten:[1] Ist unser Mitarbeiter wirklich so schlecht und unmoralisch, so war es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des betreffenden sozialdemokratischen Blattes, die Redaktion des „Vorwärts“, der „Leipziger Volkszeitung“ und der „Neuen Zeit“, wo dieser Genosse Artikel unter seiner Unterschrift veröffentlicht hat, bereits vor zwei Jahren über seine Person aufzuklären, zumal die angeblichen Delikte, laut dieser Anklage, mehrere Jahre zurückliegen. Ferner war dieser Genosse Delegierter auf dem Kopenhagener Kongreß[2] und die Vertreter des Blattes, das ihn jetzt anklagt, saßen mit ihm an einem Tische. Wie konnten sie es unterlassen, sofort das Büro über die Qualifikationen dieses Delegierten zu informieren? Erst jetzt, nachdem der betreffende Genosse die Taktik dieses Blattes in Sachen der Grunwaldfeier[3] neuerdings scharf angegriffen, erfolgt die Anklage, und zwar nicht in dem sozialdemokratischen Blatte selbst, sondern durch Vermittlung eines bürgerlichen Schmutzblattes. Diese Tatsachen werfen ein sonderbares Licht auf die Anklage. Das wird freilich den betreffenden Genossen nicht hindern, der Sache auf den Grund zu gehen.
Vorwärts (Berlin),
Nr. 226 vom 27. September 1910.
Wiederveröffentlicht durch Holger Politt. In: Rosa Luxemburg: Nach dem Pogrom. Texte über Antisemitismus 1910/11. Hrsg. und aus dem Polnischen übersetzt von Holger Politt. Potsdamer Textbücher, Band 22, Potsdam 2014, S. 25-30.
[1] In der polnischen Übersetzung des Artikels fügte die Redaktion des Ml⁄ot (Der Hammer) folgende Fußnote hinzu: „Wie nach den Schöpfungen von Herrn Niemojewski nicht schwer zu erraten ist, handelt es sich hierbei um den Naprzód aus Krakau und um das Schmutzwasser, das die Redaktion dieses Blattes vor der Gesellschaft gemeinsam mit Herrn Niemojewski gegen Karl Radek ausgeschüttet hat.“ Die Anschuldigungen wegen Diebstahls gegen Karl Radek wurden abgedruckt in Mysl Niepolegl⁄a, Nr. 147, September 1910, S. 1324 ff., eingeleitet mit dem Satz: „Wer der ideellen Sache dient, muß vor allem saubere Hände haben.“
[2] Gemeint ist der Internationale Sozialistenkongreß in Kopenhagen vom 28. August bis 3. September 1910.
[3] Zur 500-Jahr-Feier der Schlacht bei Grunwald, des Sieges über den Deutschen Ritterorden, war am 15. Juli 1910 im Zentrum von Krakau unter der Teilnahme von mehr als 100000 Menschen das Grunwald-Denkmal eingeweiht worden.