Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 659

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die geistigen Vertreter der klassenbewußten Arbeiter sich vom Schweiße der Arbeiter mästen, daß sie durch die Arbeiterbewegung Karriere machen wollen (eine Anklage, die in Rußland, wo die „Karriere“ in den meisten Fällen in den Zuchthäusern Sibiriens endet, besonders grotesk wirkt). Es wird der verlogenste persönliche Klatsch breitgetreten und die Ehre der Mitarbeiter der Arbeiterpresse in den Kot gezogen. Das Blatt schreckt selbst vor der Aufdeckung von Pseudonymen nicht zurück. Wem dadurch unter den russischen Verhältnissen ein Dienst erwiesen wird, ist klar. Man muß sich fragen, ob es Gewissenlosigkeit, moral insanity oder Unzurechnungsfähigkeit ist, die in diesem Falle dem „freidenkerischen“ Skribifax die Hand leiten.

Ein Spezifikum dieses polnischen „Freidenkertums“ ist krasser Chauvinismus und Antisemitismus. Die Sozialdemokratie sei „verjudet“ und das sei eine Schande und Schmach. Aber auch liberale jüdische Schriftsteller werden in den Kot gezogen, nur weil sie Juden sind.[1] Der Ton, der dabei angeschlagen wird, ist derart, daß unsere Ahlwardt und Stöcker im Vergleich damit als höchst anständig gelten müßten.

Diese Merkmale sind um so befremdender, als das einzig Gute am wirklichen Freidenkertum die Hochhaltung allgemein menschlicher Ideale ist. Die Freidenker, die diesen Namen wirklich verdienen, treten für die Idee des Weltbürgertums ein, wenden sich gegen den bornierten Chauvinismus und Rassenhaß. Wenn dieses Freidenkertum in Ländern des Westens auch wenig leisten kann für die Verwirklichung dieser Ideen, wenn es sich von der Arbeiterbewegung, dem einzigen Träger des sozialen Fortschritts, abwendet, so kommt ihm immerhin das Verdienst zu, daß es das Bürgertum an seine früheren Ideale erinnert. Das Freidenkertum in Polen dagegen ist dermaßen entartet, daß sein Organ auf das Niveau eines antisemitischen Hetzblattes herabsinken kann. Das ist jedenfalls darauf zurückzuführen, daß die Unfreiheit jede soziale Klasse, die nicht gegen diese Unfreiheit kämpft, korrumpieren muß. Das „freidenkerische“ Schmutzblatt spiegelt also nur den geistigen und moralischen Verfall der polnischen Bourgeoisie wider. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die geistige Verwilderung, die aus diesem Blatte spricht, bei jedem zivilisierten Menschen Ekel hervorrufen muß.

Unter den Kampfmitteln, dessen sich dieses Blatt gegen die Arbeiterbewegung bedient, spielt natürlich auch das bekannte Ausspielen der Sozialisten fremder Länder gegen die des eigenen Landes eine Rolle. Für unsere Reaktionäre sind bekanntlich stets Jaurès oder Vandervelde Musterknaben, Bebel der schwarze Mann. Das polnische Freidenkerblatt lobt die deutschen Sozialdemokraten, um die polnischen beschimpfen zu können. Da auch der „Vorwärts“ bei diesem tölpelhaften Spiel jenes Blattes herhalten muß, so nehmen wir um so mehr Gelegenheit, unserem Abscheu gegen diese Art von „Freidenkertum“ Ausdruck zu geben.

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[1] Bezieht sich auf Stanisl⁄aw Kempner (1857–1924) und Józef Wasowski (eigtl. Józef Wasercug; 1885 bis 1947)