Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 658

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Es ist eben kein Zufall, daß das sogenannte Freidenkertum von heute verknüpft ist mit bourgeoisen Klasseninteressen, und deshalb trotz des scheinbaren Berührungspunktes mit der Arbeiterschaft, dem Kampf gegen Klerisei und Muckertum, der sozialdemokratischen Weltanschauung fremd und feindlich gegenübersteht. Daraus erklärt es sich auch, daß nirgends die spezifische Freidenkerbewegung Anhänger unter den Arbeitern gefunden hat. Man sollte meinen, daß in Ländern, wo der Kampf gegen den Klerikalismus im Vordergrunde steht, wie z. B. heute in Spanien, der freidenkerische Gedanke genügend werbende Kraft besitzen müßte, um die Arbeiter ins Lager der Freidenker hinüberzuziehen. Trotzdem sehen wir keine Spur davon. Man sollte meinen, daß in England, wo in allen Schichten der Bevölkerung ein eigentümlicher Hang zur Erörterung religiöser Fragen zu beobachten ist, die atheistischen Freidenker Scharen von Arbeitern beeinflussen müßten. In Wirklichkeit sehen wir aber Scharen von Arbeitern in den englischen religiösen Sekten aller Observanzen, nur die Sekte der Freidenker bleibt vollständig auf bourgeoise und kleinbürgerliche Elemente beschränkt. Der Vorgang ist indessen vollkommen erklärlich. Der Arbeiter, der sein Denken und Fühlen von den Schlacken der Religion freimacht, hat fast stets auch die geistige Kraft, sich zur sozialistischen Weltanschauung aufzuraffen. Er wirft mit dem religiösen Bekenntnis auch die kleinbürgerliche Denkweise von sich, und dann wird ihm auch sofort klar, daß das verödete Freidenkertum ihm nichts zu bieten hat, daß es ihm wesensfremd, ja feindlich ist, wie eben die Bourgeoisie dem Proletariat feindlich ist. Deshalb ist der freidenkende Arbeiter nur in ganz seltenen Ausnahmefällen Freidenker, sondern er wird Sozialdemokrat.

Darin besteht eben die Evolution: Die Massen zum politischen Kampfe gegen den Klerikalismus führen, kann heute nur die Sozialdemokratie, das Freidenkertum ist und bleibt eine durch und durch bourgeoise Sekte, wenn man will ein Rudiment aus einer überwundenen Zeit. Wie der moderne Mensch das Schwanzwirbelchen als Rudiment früherer Entwicklungsperioden mit sich schleppt, so schleppt die kapitalistische Gesellschaft das Schwanzwirbelchen des bourgeoisen Freidenkertums mit sich.

Eine besondere Erscheinung können wir zurzeit in Russisch-Polen beobachten. Auch hier gibt es Freidenker, aber von ganz eigenartiger Spezies. Diese Leute verdanken es dem heldenmütigen Kampfe des russischen und polnischen Proletariats, daß sie ihre Propaganda entfalten können. Eine der Errungenschaften des revolutionären Kampfes ist eine etwas größere Bewegungsfreiheit der Presse. Freilich werden sozialdemokratische Blätter unterdrückt, aber die bürgerliche Presse hat bedeutend mehr Spielraum als früher, und das kommt ganz besonders den Freidenkern zugute. Ihr Blatt „Mysl Niepodlegla“ (Unabhängiger Gedanke), das unter Redaktion eines gewissen Herrn Andrzej Niemojewski in Warschau erscheint, benützt nun diese Freiheit vor allem dazu, die polnische Sozialdemokratie in unflätigster Weise zu beschimpfen. Es werden da alle Register gezogen, die in Deutschland zum Bestande der landrätlichen Reptilblättchen niedrigsten Kalibers gehören, wie der Vorwurf, daß

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