Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 930

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Zehn Jahre (Zum 10. Jahrestag des Blutsonntags in Petersburg)

[1]

Am 22. Januar 1905 trug der Telegraph nach allen Richtungen die Kunde, daß die Arbeiter Petersburgs, die in endlosen Zügen, feiertäglich gekleidet, nach dem Winterpalais hinströmten, um dem Zaren ihre Forderungen zu überreichen, auf den Straßen und Plätzen der Hauptstadt niederkartätscht und niedergemetzelt wurden. Mit Heiligenbildern und Zarenporträts waren sie unter Führung des Popen Gapon vor das Schloß gezogen, um „Väterchen-Zar“ die Not ihres Daseins zu klagen. Doch die Salven der zaristischen Leibregimenter durchbohrten nicht nur die Heiligenbilder und Zarenporträts, sie vernichteten auch, mit Hunderten von Menschenleben, den noch in den Massen wurzelnden Glauben an den Monarchen und verwandelten den friedlichen Zug des Petersburger Proletariats vor das Zarenschloß in den stürmischen Auftakt zur russischen Revolution.[2]

Noch zwei Tage vor dem Blutsonntag in Petersburg hatte Peter v. Struve, damals der Wortführer der liberalen Opposition, in dem illegalen, im Ausland herausgegebenen Organ der Liberalen, „Oswoboshdenije“ (Befreiung) geschrieben: „Es gibt noch kein revolutionäres Volk in Rußland!“[3] Die stürmische revolutionäre Bewegung, die im

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[1] Der Beitrag ist nicht gezeichnet, aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. Als Typoskript, ohne Angabe von Initialen und ohne Zuordnung zu einer SK, befindet er sich in Hoover Institution Archives, Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers, Stanford, Kalifornien/USA. Siehe S. 886, Fußnote 1. Inhaltlich widerspiegelt der Beitrag ihr vielfältig ausgewiesenes Interessengebiet und gibt eine mit ihren Erfahrungen übereinstimmende Einschätzung der unterschiedlichen Klassen und Parteien sowie der neuen Situation im Krieg. Siehe GW, u. a. Bd. 1, Zweiter Halbbd, S. 477 ff., Bd. 2, S. 5 ff, Bd. 4, S. 116 ff. und Bd. 6, S. 501 ff. – Im Dezember 1914 fuhr sie z. B. „zum Vortrag über Rußland ins Gewerkschaftshaus“. Siehe GB, Bd. 5, S. 31. Auch Franz Mehrings Brief an Mathilde Jacob vom 2. Januar 1915 spricht für Rosa Luxemburg als Autorin. Darin heißt es: „Mit dem Neujahrsartikel war ein kleiner Irrtum; ich schrieb ihn nicht, weil ich annahm, daß Frau Dr. Luxemburg ihn schreiben wollte. Es tut mir sehr leid, daß Sie vergebens gewartet haben. Nichts für ungut!“ Siehe Hoover Institution Archives, box 3, folder 21. Vermutlich lieferte Rosa Luxemburg ihren Beitrag zu spät, so daß er bei Mathilde Jacob liegenblieb. Die SK mußte nämlich ihr Erscheinen nach Nr. 130 vom 21. Dezember 1914 in der bisherigen Form einstellen. Es wurden bis Mai 1915 nur noch einige Nummern mit Wirtschaftlichen Rundschauen von Julian Marchlewski hergestellt. Eine Ausnahme bildete die Nr. 133 vom 3. März 1915, in der ein Schreiben von P. Axelrod und S. Semkowsky an das ISB in Haag im Namen des Ausländischen Sekretariats des Organisationskomitees der SDAPR unter der Überschrift Die Sozialdemokratie Rußlands über die Aufgaben der Gegenwart abgedruckt wurde. Siehe SAPMO-BArch, NY 4131, Bl. 400 f.

[2] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06. Siehe auch S. 978, S. 691, S. 750 und S. 930.

[3] Schon Anfang des Jahres 1905 hatte Rosa Luxemburg angeprangert: „Ein Blitz aus heiterem Himmel war die plötzliche politische Massenerhebung des Petersburger Proletariats nicht bloß für die hirnlosen Kretins der herrschenden Diebesbande des Zarismus, nicht bloß für den stockbornierten rohen Haufen der industriellen Geldsäcke, die in Rußland den Platz einer Bourgeoisie einnehmen. Sie war es nicht minder für die russischen Liberalen, für die ad majorem libertatis gloriam festessenden Herren, die auf den Banketten in Kiew und Odessa die auftretenden proletarischen Redner mit lauten Pfuirufen und ‚Hinaus mit euch!‘ empfingen; für die Herren Struve & Co., die noch am Vorabend der Petersburger Revolution die revolutionäre Aktion des russischen Proletariats eigentlich als eine ‚abstrakte Kategorie‘ betrachteten und die Jerichomauern des Absolutismus am sichersten durch das liberale Gemiaue und Gewinsel der ‚hochangesehenen Persönlichkeiten‘ stürzen zu können glaubten.“ Siehe GW, Bd. 1, 2. Halbbd., S. 482.