Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1058

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Eine Tragikomödie

[1]

Unter dem üblichen Tamtam der bürgerlichen und auch der regierungssozialistischen Presse hatte der Reichstag einen sogenannten Verfassungsausschuß niedergesetzt,[2] der endlich einen Anfang mit der vielberufenen „Neuorientierung“ machen und namentlich drei Aufgaben erledigen sollte: Die Einführung des parlamentarischen Systems im Reiche, die Herstellung des allgemeinen Wahlrechts in allen deutschen Einzelstaaten und endlich die Reform des Reichstagswahlrechts.

Es lohnte von vornherein nicht, von diesem „epochemachenden“ und „grundlegenden“ Beschluß irgendwelche ernsthafte Notiz zu nehmen. Selbst dann nicht, wenn der gegenwärtige Reichstag jemals etwas anderes als ein willenloses Werkzeug in der Hand der Regierung gewesen wäre. Auch dann würde sein Ausschuß nur die Papierkörbe mit einiger Makulatur von Beschlüssen und Resolutionen bereichert haben. „Verfassungsfragen und [sind] Machtfragen“ – das ist seit den Tagen Lassalles[3] zwar eine sehr abgedroschene Weisheit, aber sie wird oft genug von denen nicht verstanden, die sie, wie manchmal selbst die regierungssozialistischen Blätter, prunkend im Munde führen. Lassalle hat niemals der lächerlichen Einbildung gefrönt, das parlamentarische System lasse sich durch noch so flammende und noch so wortreiche Resolutionen erreichen – denn dann wäre es schon zu seiner Zeit durch die fortschrittliche Kammermehrheit erreicht worden –, sondern Lassalle hat mit aller Deutlichkeit erklärt, das parlamentarische System lasse sich nur durch die völlige Niederkämpfung

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[1] Der Artikel ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen versehen, das sie auch für ihre Beiträge in der SAZ 1898 häufig verwendet hat. Siehe GW, Bd. 6, S. 129 ff. – Siehe auch: Mensch sein, das heißt… Rosa Luxemburg und ihre Freunde in Geschichte und Gegenwart, bibliographische Angaben von Narihiko Ito, Heft 69/2, „Helle Panke“ e. V., Berlin 2004, S. 55, des weiteren S. 995, Fußnote 1 und S. 999, Fußnote 1.

[2] Der sog. Verfassungsausschuß war auf Antrag der sozialdemokratischen und der nationalliberalen Reichstagsfraktion am 30. März 1917 für die Vorbereitung von innenpolitischen Reformen eingesetzt worden. Er bestand aus 28 Mitgliedern, den Vorsitz hatte Philipp Scheidemann inne. Von der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft gehörten ihm an: Hugo Haase und Georg Ledebour, von den Sozialdemokraten David, Gradnauer, Heine-Dessau, Hoffmann-Kaiserslautern, Landsberg und Scheidemann.

[3] Von Lassalle stammte die Äußerung: „Wir haben jetzt also gesehen, meine Herren, was die Verfassung eines Landes ist, nämlich: die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse.“ Siehe Ferdinand Lassallle: Über Verfassungswesen. Ein Vortrag gehalten in einem Berliner Bürger-Bezirks-Verein. In: Ferd. Lassalle’s Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung hrsg. von Ed. Bernstein, London, Erster Band, Berlin 1893, S. 481.