Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1059

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des Absolutismus erobern, für die er die Parole ausgab: Den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust.[1]

In der Tat ist das parlamentarische System – dessen Kern die Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratie im Verfassungsausschuß ganz treffend in dem Satze zusammengefaßt haben: „Der Reichskanzler ist zu entlassen, wenn der Reichstag es durch Mehrheitsbeschluß fordert“[2] – immer nur die Frucht sehr ernsthafter Revolutionen gewesen, in England wie in Frankreich oder wo es sonst immer bestehen mag. Lassalle glaubte es allerdings auf unblutigem, wenn auch bei alledem revolutionärem Wege erreichen zu können: durch den finanziellen Bankrott der Regierung, den die Volksvertretung dadurch herbeiführen könne und solle, daß sie sich weigert, das Spiel des Scheinkonstitutionalismus weiter mitzuspielen. Aber gleichviel ob dies Exempel, auf das die damalige Fortschrittsmehrheit sich weigerte, die Probe zu machen, gestimmt hätte oder nicht, so ist Lassalle so wenig wie sonst irgendein ernsthafter Politiker je auf den kuriosen Gedanken verfallen, das parlamentarische System lasse sich durch einen noch so einstimmigen und noch so feierlichen Beschluß der Volksvertretung von heute auf morgen einführen.

Immerhin – hätte sich der Verfassungsausschuß zu einem solchen Beschluß aufgerafft, so hätte er wenigstens das Gesicht gewahrt, und man hätte seinen Mitgliedern noch das Kompliment machen können: Ihr seid zwar schlechte Musikanten, aber doch gute Leute, und so sehr Euch die Kräfte fehlen, so ist doch Euer Wille zu loben. Jedoch daran hat er gar nicht gedacht; er hat dem parlamentarischen System voll schauderndem Entsetzen den Rücken gekehrt, und sich damit begnügt, einige Flickereien an einzelnen Paragraphen der Reichsverfassung vorzuschlagen, die ungefähr alles beim Alten lassen würden, selbst wenn sie die Zustimmung des Bundesrats finden sollten, woran nach den Äußerungen des Regierungsvertreters im Verfassungsausschuß nicht zu denken ist.

Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in den deutschen Einzelstaaten hat sich der Verfassungsausschuß überhaupt nicht oder noch nicht beschäftigt, aber es ist ein öffentliches Geheimnis, daß seine Mehrheit, wenn es zur Beratung dieser Frage kommen sollte, ihr ebenfalls mit schauderndem Entsetzen den Rücken kehren wird. Dagegen hat er das Reichstagswahlrecht in seiner Weise „verbessert“ und hierfür auch die halbe Zustimmung des Regierungsvertreters gefunden. Er will nicht etwa

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[1] Siehe Zweiter Vortrag über Verfassungswesen. In: ebenda, S. 535, wo es heißt: „Dann also kein neuer Kompromiß mit ihm [dem Absolutismus], sondern: den Daumen auf’s Auge und das Knie auf die Brust!“.

[2] Siehe Bericht über die erste Sitzung des Verfassungsausschusses am 4. Mai 1917. In: Beilage des Vorwärts (Berlin), Nr. 122 vom 5. Mai 1917, in dem außerdem steht: „Bei der Abstimmung wird der Teil aus dem Antrag Bernstein und Genossen, daß der Kanzler auf Beschluß des Reichstags zu entlassen ist, gegen die Stimmen der Sozialdemokraten abgelehnt.“ – Siehe auch Verfassungsbrot. In: Vorwärts, Nr. 125 vom 8. Mai 1917 und Heinrich Cunow: Der Nutzen des parlamentarischen Regierungssystems. In: ebenda, Nr. 130 vom 13. Mai 1917.