Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1060

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die Ungleichheit der Wahlkreise ausgleichen – wie käme er zu solcher Vermessenheit? – vielmehr sollen die Wahlkreise mit geringer Bevölkerung die Abgeordneten behalten, die ihnen nicht mehr zukommen, dagegen sollen die Riesenwahlkreise ein paar neue Mandate erhalten. Welches diese Wahlkreise sein und wie viele neue Mandate sie erhalten sollen, wagt der Verfassungsausschuß nicht einmal vorzuschlagen, sondern überläßt die Entscheidung vertrauensvoll der Regierung.

Aber damit ist der eigentliche Witz dieser „Reform“ noch nicht erschöpft, und wir wollen ihn mit den Worten eines bürgerlichen Blattes wiedergeben: „Für das Land bleiben die Einzelwahlkreise bestehen; für die großen Städte und Industriebezirke wird die Proportionalwahl eingeführt. Mit andern Worten; auf dem Lande, wo die Konservativen und Klerikalen herrschen, bleiben die liberalen und sozialdemokratischen Minderheiten nach wie vor tot. In den Großstädten und Industriebezirken erhalten die konservativen, klerikalen oder nationalliberalen Minderheiten ihre Vertretung.“[1] Man begreift, daß der Bundesrat dieser „Reform“ zustimmen wird.

Das Skandalöseste aber ist, daß auch die regierungssozialistischen Mitglieder des Verfassungsausschusses – bis auf zwei, die sich der Stimme enthalten haben, für diese „Verbesserung“ des Reichstagswahlrechts eingetreten sind. Herr Scheidemann ist wirklich würdig, dem Verfassungsausschuß vorzusitzen, und dieser Ausschuß ist würdig, Herrn Scheidemann zum Vorsitzenden zu haben. Doch damit genug von einer Tragikomödie, die man nur mit Widerwillen betrachten kann und am liebsten gar nicht erwähnen würde, wenn sie nicht geeignet wäre, den Arbeitermassen abermals ein Licht aufzustecken sowohl „über den bürgerlichen Parlamentarismus im allgemeinen als auch über die Scheidemänner“ im besonderen.

Der Kampf (Duisburg),

Nr. 50 vom 18. Mai 1917.

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[1] Siehe Das Wahlrecht der Fläche. In: Berliner Tageblatt, Nr. 238 vom 11. Mai 1917.