Zum Wahlrechtskampf. Rede am 10. April 1910 auf einer Kundgebung unter freiem Himmel in Kamen
[1]Nach einem Zeitungsbericht
Die Rednerin ging zunächst auf die Schwierigkeiten ein, die man bisher unseren Demonstrationen polizeilicherseits machte, und feierte die neueste Schwenkung des Polizeikurses als den ersten Sieg im Wahlrechtskampfe. Nachdem wir so unsere Gegner gezwungen hätten, uns unser Recht auf die Straße zu geben, gelte für uns jetzt das Wort des Kaisers, das er anläßlich der großen Flottenbewilligungen prägte: „Nun aber weiter!“[2] Heute haben wir das Recht auf die Straße errungen, und morgen werden wir auf der Straße das freie Wahlrecht erringen. Mit vollem Bewußtsein, so fuhr die Genossin fort, sage ich das, denn in den Händen der Millionen Proletarier liegt die Entwicklung der preußischen politischen Verhältnisse. Mag die Schandvorlage angenommen werden, das schert uns nicht, auf der Straße werden wir das wirklich freie Wahlrecht erringen. Die Geschichte lehrt, daß noch immer die großen Ereignisse auf der Straße ihren Ursprung nahmen. Am 18. März 1848 war es, wo das Volk von Berlin auf die Barrikaden stieg und mit den Truppen kämpfte um sein Recht.[3] Am 19. März früh wurden die Truppen zurückgezogen, das Volk hatte gesiegt. Es nahm seine Toten, trug sie vor das Schloß und zwang den König Friedrich Wilhelm IV., seinen Hut vor ihnen zu ziehen. Derselbe König, der noch vor kurzem den Ausspruch getan: „Zwischen mir und meinem Volke soll kein Blatt Papier kommen!“[4] wurde nun gezwungen, dieses Blatt Papier dem Volke vor die Füße zu legen, und auf diesem Blatt stand das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. Aber damals hat die Bourgeoisie das Volk feige verraten. Heute sind wir wieder dahin gekommen, das
[1] Überschrift der Redaktion.
[2] Am 13. Juni 1900 hatte die Direktion der Hamburg-Amerika-Linie zur Annahme des Flottengesetzes Wilhelm II. ein Glückwunschtelegramm gesandt, auf das er antwortete: „Nun aber weiter, daß unsere Flotte auch bald wirklich achtungsgebietend auf dem Meer erscheinen kann, als Kraftzuwachs in meiner Hand der Welt den Frieden zu bewahren.“ Siehe Das persönliche Regiment. Reden und sonstige öffentliche Äußerungen Wilhelms II. Zusammengestellt von Wilhelm Schröder, München 1907, S. 30.
[3] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.
[4] Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. hatte in seiner Thronrede am 11. April 1847 zur Eröffnung des Ersten Vereinigten Landtages erklärt, „daß es keiner Macht der Erde je gelingen soll, Mich zu bewegen, das natürliche, gerade bei uns durch seine innere Wahrheit so mächtig machende Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein conventionelles, constitutionelles zu wandeln, und daß Ich es nun und nimmermehr zugeben werde, daß sich zwischen unseren Herr Gott im Himmel und dieses Land ein beschriebenes Blatt gleichsam als eine zweite Vorsehung eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren und durch sie die alte, heilige Treue zu ersetzen.“ Der erste Vereinigte Preußische Landtag in Berlin 1847, hrsg. von Eduard Bleich, Bd. I, Berlin 1847, S. 22.