Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 623

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Der Wahlrechtskampf. Vortrag am 31. Mai 1910 in einer von Sozialdemokratinnen einberufenen öffentlichen Versammlung in Charlottenburg

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Nachdem sie die Rolle der bürgerlichen Parteien in den Kämpfen um die Wahlrechtsvorlage[2] kurz charakterisiert hatte, ging sie zu einer Würdigung des negativen Ausgangs der Aktion über und führte dabei aus: Das sei kein Zufall, das beweise nur, daß in der Frage des preußischen Wahlrechts mit stückweisen Reformen überhaupt nichts zu erreichen ist. Es müsse eine Aktion erfolgen, die die Sache von der Wurzel aus angreift. Keine andere „Reform“ sei mehr möglich als eine gänzliche Entwurzelung des bestehenden Wahlrechts und ein Neuaufbau. Auf parlamentarischem Wege sei das nicht zu erreichen, alles was unter den bestehenden Verhältnissen zu tun war, sei ja versucht worden. Die Sache des preußischen Wahlrechts[3] müsse außerhalb des Parlaments, auf der Straße entschieden werden; nur unter dem unmittelbaren Druck der großen Masse könne etwas geschehen. In der Frage des Wahlrechts ständen wir jetzt in Preußen auf dem Punkt, wo ihn der Arm des Volkes 1848 verlassen hat. Das sei eine Tatsache, die wir im Auge behalten müßten. –

Während dieser Ausführungen hatte der überwachende Polizeileutnant sich erhoben und ließ die Rednerin durch den Leiter der Versammlung ersuchen, nicht in dieser aufhetzerischen Weise weiter zu reden. Unter großer Erregung der Zuhörerschaft fertigte jedoch Genossin Luxemburg den Störer, „den Jünger des Herrn von Jagow“,[4] ab, indem sie ihm riet, ihre ganze Rede abzuwarten, und ihm die tröstliche Versicherung gab, noch viel „aufhetzerischer“ zu werden.

Die Rednerin rief den Zuhörern nun die Zeit von 1848 ins Gedächtnis zurück[5] und wies die Sünden des liberalen Bürgertums nach. Denn Schuld des Liberalismus sei es, daß wir heute noch mit Ruinen des Mittelalters kämpfen, das Werk der Revolution fortsetzen müssen. Er hätte das revolutionäre Volk bewaffnen, das Staatsruder, die Staatsstellungen den Junkern aus den Händen reißen müssen, er hätte die erste demokratische Forderung erfüllen und die Republik verkünden müssen. Aus Angst vor dem aufstrebenden Proletariat hat das liberale Bürgertum nichts von alledem getan, und so wurde uns das gleiche Wahlrecht einfach wieder wegdekretiert. Heute

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[1] Überschrift der Redaktion. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1971 (Feliks Tych: Uzupelnienia do Bibliographii Prac [Pierwodruków] Rózy Luksemburg. In: Z pola walki 1971, Nr. 1), unter Nr. 42 ausgewiesen.

[2] Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Änderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen.

[3] Gemeint ist das preußische Dreiklassenwahlrecht. Es war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.

[4] Traugott von Jagow war von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin. Berüchtigt und für sein brutales Vorgehen gegen die Arbeiterklasse kennzeichnend war seine „Bekanntmachung“ vom 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung in Berlin: „Es wird das ‚Recht auf die Straße‘ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.“ Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, Berlin, 5. Jg. [1910], S. 74.

[5] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.