Bankrotteure
[1]In seiner urkomischen Weise hatte der brave „Vorwärts“ die letzte Dienstagsitzung des Reichstags im voraus als ein weltgeschichtliches Ereignis angekündigt;[2] standen doch die Kriegszielinterpellationen der Konservativen und der Regierungssozialisten auf der Tagesordnung, und Herr Scheidemann schwamm in der seligen Hoffnung, der Reichskanzler werde ihm nicht mehr nur hinter den Kulissen, sondern vor aller Welt auf die Schultern klopfen und als seinen jungen Mann anerkennen: Nun machen wir zwei beide zusammen die Weltgeschichte.
Es kam aber ganz anders, und zwar so, wie es kommen mußte und wie jeder Politiker, der noch über seine fünf Sinne gebietet, vorausgesehen hatte. Der Reichskanzler hielt dieselbe Rede, die er schon einige Dutzend Male seit dem Ausbruche des Weltkrieges gehalten hat; er hütete sich, sei es nun die eine oder andere Anfrage über die Kriegsziele der Regierung mit Ja oder Nein zu beantworten, sondern erging sich in allgemeinen Betrachtungen, die eher noch verschwommener denn klarer waren, als bei früheren Gelegenheiten. Er lasse sich weder von Scheidemann noch von Heydebrand schieben, sondern gehe seinen eigenen Weg, je nach den Umständen, und der große Haufe der bürgerlichen Parteien klatschte dazu begeisterten Beifall.
Merkwürdigerweise waren aber auch die beiden, von Herrn v. Bethmann abgehalfterten Parteien keineswegs unzufrieden mit dem Bescheide, der ihnen [gegeben] wurde. Und bei den Konservativen läßt es sich leichter begreifen. Ihr Zweck war, den Reichskanzler zu einer deutlichen Absage an seinen jungen Mann Scheidemann zu veranlassen, und diesen Zweck haben sie erreicht. Sie selbst hatten gar keine bestimmten Annexions- und Eroberungsziele aufgestellt, und es paßt ganz gut in ihren Kram, daß die Regierung diese Frage einstweilen im Dunkeln läßt und an der uferlosen Fortsetzung des Krieges festhält. Die konservativen Blätter behandeln denn neuerdings auch den Reichskanzler mit einer Höflichkeit und einem Wohlwollen, die er von dieser Seite seit langem nicht mehr gewöhnt gewesen ist.
[1] Der Artikel ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen versehen, das sie auch für ihre Beiträge in der SAZ 1898 häufig verwendet hat. Siehe GW, Bd. 6, S. 129 ff. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Artikel unter Nr. 656 ausgewiesen; ebenso in der Bibliographie von Narihiko Ito von 2002, S. 25 unter Nr. 59. Siehe auch S. 995, Fußnote 1 und S. 999, Fußnote 1.
[2] Siehe Verantwortliche Kriegspolitik. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 132 vom 15. Mai 1917; In Nr. 133 vom 16. Mai 1917 überschrieb der Vorwärts seinen Bericht über die Reichstagsdebatte bezeichnenderweise mit Gewollte Unklarheit der Kriegsziele.