Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1031

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/1031

„Die Schicksalsstunde der Partei“

[1]

Die durch den Parteivorstand herbeigeführte formelle Spaltung der Partei ist nur ein neues Stadium des naturgemäßen Zersetzungs- und Zerfallsprozesses, dem die Sozialdemokratie seit dem Ausbruch des Krieges anheimgefallen ist. Die „Schicksalsstunde der Partei“ ist nicht der Entschluß der Parteiinstanzen zur Hinausdrängung der Opposition, sondern die „Schicksalsstunde“ der deutschen Sozialdemokratie wie des internationalen Sozialismus war der 4. August 1914.[2] Das völlige Versagen in der wichtigsten geschichtlichen Probe hat die Zwecklosigkeit der deutschen Sozialdemokratie wie der Internationale in ihrer bisherigen Gestaltung und Beschaffenheit aufgezeigt. Nachdem sich die Existenz der Sozialdemokratie als einer revolutionären Klassenpartei des Proletariats geschichtlich als Scheinexistenz erwiesen hat, ergab sich ihre fortschreitende politische Zersetzung und damit auch ihr organisatorischer Zerfall als unvermeidlicher Vorgang, der mit der ehernen Logik eines Naturprozesses im Laufe des Krieges einsetzen mußte.

Die Generalliquidierung dieses Prozesses mußte ebenso naturgemäß auf drei Ziele gerichtet werden: 1.) Beseitigung der Herrschaft der bürgerlich-imperialistischen Elemente, die in der Partei am Ruder sitzen, 2.) Sammlung der proletarisch-sozialistischen Elemente, die heute durch die Herrschaft jener Schicht in der Partei lahmgelegt, erdrosselt oder abgestoßen sind, 3.) Gründliche Umbildung der Gesamtbewegung in organisatorischer und taktischer Beziehung, um sie ihren wirklichen historischen Aufgaben anzupassen und die Wiederholung des Bankrotts bei der nächsten geschichtlichen Probe zu vermeiden. Diese Ziele lassen sich nach wie vor nur unter aktiver Teilnahme breiter Volksmassen erreichen. Nur wenn die Massen auf den Plan treten,

Nächste Seite »



[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. Evtl. wählte sie den in An- und Abführungsstriche gesetzten Titel, weil im Vorwärts (Berlin), Nr. 32 vom 22. Februar 1917, ein Artikel zum Problem der Spaltung und Sonderorganisation unter der Überschrift Die Schicksalsstunde der Partei erschienen war. Sie selbst verweist im 2. Absatz von Das Ergebnis der Osterkonferenz, S. 1043 im vorliegenden Band, auf ihre Verfasserschaft. Siehe auch Kurt Koszyk: Das abenteuerliche Leben des sozialrevolutionären Agitators Carl Minster (1873–1942). In: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. V, Hannover 1965, S. 199, der Gracchus, ein Pseudonym Rosa Luxemburgs, für diesen Artikel vom 31. März 1917 hervorhebt. Über die sie bewegende Schicksalsfrage der Partei schrieb sie bereits im Brief an Carl Moor am 12. Oktober 1914. Siehe GB, Bd. 5, S. 15. Inhaltliche Bezüge gibt es auch in der Junius-Broschüre. Siehe GW, Bd. 4, S. 53, und in den Fragmenten über die internationale und deutsche Sozialdemokratie im vorliegenden Band, S. 1088 ff.

[2] Siehe S. 992, Fußnote 3.