Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 657

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Freidenkertum und Sozialdemokratie

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Die politische Entartung des Bürgertums äußert sich unter anderem auch in dem Schicksal der Freidenkerbewegung. Sie hat ihre Heroen in der Zeit, wo es galt, den Kampf gegen Feudalismus und Kirche zu führen, wo die Bourgeoisie ihre revolutionäre Rolle auf dem Schauplatz historischer Kämpfe spielte. Galilei und Giordano Bruno, Hume, Blunt und Tolaud, Rousseau und Voltaire sind die stolzen Namen, die dem Bürgertum aus jener Zeit als Erbe zufallen. In Deutschland, wo es noch im neunzehnten Jahrhundert galt, mit dem Moder einer überlebten Zeit aufzuräumen, glänzen die Namen eines Strauß, Feuerbach, Ludwig Büchner, Molleschott. Was ist heute aus dieser Bewegung geworden? Das Freidenkertum ist zu einer Sekte geworden, die an Intoleranz mit den Pfaffen wetteifert und die den revolutionären Kämpfen unserer Zeit mit dem Haß und Unverstand gegenübersteht. Wir haben während des Kulturkampfes[2] viele dieser Pfäfflein des Atheismus im Lager der Nationalliberalen gesehen, wir haben sie mit gleicher Wut Ausnahmegesetze gegen die katholische Kirche wie gegen die Sozialdemokratie fordern hören. Die besten von ihnen stehen auch heute, wie Ernst Haeckel, der Arbeiterbewegung fremd und verständnislos gegenüber. Das gleiche Schauspiel in Frankreich. Die Clemenceau und Rochefort und Bourgeois, die dort im Kampfe gegen die Kirche toben, sind geschworene Feinde der proletarischen Bewegung. Wenn es einmal eine Ausnahme gibt, wenn ein „freidenkerischer“ Strohkopf sich in das Lager des Proletariats verirrt, dann haben die Arbeiter alle Ursache, solchen Leutchen besonders wachsam auf die Finger zu sehen, wie die widerwärtige Gastrolle des seinerzeit aus der Partei ausgeschlossenen Dr. P. A. Rüdt in unserer Partei beweist.

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburgs Autorschaft erschließt sich aus ihren Briefen an Leo Jogiches vom 26. September und 7. Oktober 1910. Siehe GB, Bd. 3, S. 235 und 238. Siehe auch ihren Brief an Émile Vandervelde vom 8. Oktober 1910. In: GB, Bd. 6, S. 172 f. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 481 ausgewiesen. – Der Beitrag wurde von Rosa Luxemburg und Leo Jogiches geschickt eingesetzt, um die eigenen Positionen in der Auseinandersetzung in der polnischen Presse zu stärken.

[2] Im Jahre 1872 hatte Otto Fürst von Bismarck den Kampf gegen die antipreußischen Bestrebungen der katholischen Kirche begonnen, der mit den Maigesetzen von 1873 seinen Höhepunkt erreichte. 1878 mußte Bismarck einen Ausgleich mit dem Klerus suchen, nachdem seine Maßnahmen ihren Zweck nicht erfüllt, sondern die katholische Kirche noch gestärkt hatten. Papst Leo XIII. beendete am 23. Mai 1887 offiziell den Kulturkampf.