Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 615

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Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Rede am 15. und 16. April 1910 in außerordentlichen Mitgliederversammlungen des Sozialdemokratischen Vereins in Barmen und in Elberfeld

Nach einem Zeitungsbericht

Im parlamentarischen Leben haben wir in letzter Zeit wichtige Ereignisse zu verzeichnen. In beiden Kammern des preußischen Landtages sind anläßlich der Wahlrechtsdebatten Worte gefallen, die uns zeigen, was wir vom Parlamentarismus zu erwarten haben. Ungeachtet des millionenfachen Protestes hat das Abgeordnetenhaus die Wahlreformvorlage angenommen.[1] Da Abänderungsvorschläge zulässig waren, haben sich unsere Vertreter bemüht, Verbesserungen durchzusetzen. Aber da trat jene Maschine in Funktion, die auch bei den Zolltarifdebatten im Reichstage die Opposition mundtot machte.[2] Systematisch wurde unseren Vertretern das Wort abgeschnitten. Und als sie hiergegen energisch protestierten, da erhoben sich wie ein Mann die Majoritätsparteien, um vom Präsidium eine Änderung der Geschäftsordnung zu verlangen. Die Konservativen verlangten, daß den „wüsten Szenen“ ein Ende gemacht werde. Der Freikonservative Herr v. Moltke, der im Gegensatz zu dem Strategen Moltke kein Schweiger ist, von dem man sagen kann: „Du wärst ein Philosoph, wenn Du schweigen würdest“, geriet in große Aufregung, weil Sozialdemokraten es wagten, einem preußischen Minister derbe Wahrheiten zu sagen und drohte sogar, sein – man denke das Furchtbare – Mandat niederlegen zu wollen. (Gr[oße] Heiterkeit.) Während die Konservativen diese Drohung mit Bravo entgegennahmen, riefen unsere Genossen, daß das Volk das nicht bedauern werde. (Sehr richtig!) Zu den Konservativen und Freikonservativen gesellte sich das Zentrum. Diese Partei, die angeblich die Rechte der Minderheit stützen will, erklärte sich ebenfalls für eine Änderung der Geschäftsordnung. (Hört, hört!) Die Nationalliberalen, deren Taktik aus zwar und aber besteht, erklärten, zwar für den Schutz der Rechte der Minderheit einzutreten, aber etwas müsse doch geschehen, darüber seien sie sich klar.

Die Annahme oder Ablehnung des Wahlgesetzes hängt jetzt vom Herrenhaus ab. Die Regierung hat zwar darauf verzichtet, sich auf alle ihre Forderungen unbedingt zu versteifen. Aber sie läßt in ihren Erklärungen durchblicken, daß sie noch etwas vom Herrenhaus erhofft, nämlich die Rettung der Privilegien für „Gebildete“ und Militäranwärter. Was die Herrenhäusler tun werden, können wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Gewiß ist jedoch, daß, wenn sie überhaupt noch Veränderungen vornehmen,

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[1] Gemeint ist das preußische Dreiklassenwahlrecht. Es war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.

[2] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.