Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 614

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Was nützt denn den Gegnern die Bedrohung unseres Lebens? Ist es nicht die kapitalistische Gesellschaft, die in ihrem Jagen nach Profit den Arbeiter lehrt, sein Leben sehr leicht zu nehmen? Die Unfallstatistiken zeigen, wie viel Arbeiter alljährlich auf dem Schlachtfelde der Arbeit getötet oder zu Krüppeln gemacht werden. Im Jahre 1909 wurden allein 635000 Unfälle bei den Berufsgenossenschaften angemeldet, und von 1864 bis 1900 bedeckten 99000 Tote das Schlachtfeld der Arbeit. Gegenüber diesen brutalen Tatsachen glaubt die Reaktion doch wohl nicht, sie könne ein klassenbewußtes Proletariat, das im täglichen Kampf ums Brot an ein solches Blutmeer gewöhnt, mit gelegentlichen Blutbädern schrecken. Die Drohnen der Gesellschaft dürfen ja nicht ihre Arbeitsbienen, die ihnen den Honig schaffen, alle totschlagen, das wäre ihr eigener Untergang. In Frankreich hat man es mit den Massenschlächtereien ja auch versucht, sogar zu wiederholten Malen,[1] doch dem Sozialismus wird damit das Haupt nicht abgeschlagen; triumphierend stieg er noch jedes Mal wieder empor. Bismarck hat es bei uns mit dem Sozialistengesetz[2] versucht, er war bald ein toter Mann, obwohl er noch lebte, und die Sozialdemokratie triumphierte über ihn.

Wir reden keinem Menschen ein, daß das freie Wahlrecht die Massen sättigen könnte, aber es ist ein notwendiges Mittel, um den weiteren Befreiungskampf des Proletariats zu entwickeln. Wir brauchen diese Waffen, um dem Sozialismus zum Siege zu verhelfen. Die ganze wirtschaftliche Entwicklung arbeitet dem Sozialismus entgegen, die bürgerliche Gesellschaft wird ihres Daseins nicht mehr froh über die beständigen Wirtschaftskrisen, die Teuerung nimmt kein Ende, sie liegt mit im Wesen dieser Gesellschaftsordnung, Unruhe, Unsicherheit ist auf der ganzen Linie. Es fehlt nichts als der feste Zusammenschluß des gesamten Proletariats. Für uns ist der Kampf jetzt nicht zu Ende, er beginnt erst richtig. Die nächste Gelegenheit zur Pflege der Massensolidarität ist die Maifeier. Sie muß zu einer Demonstration organisiert werden, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Den Wahlrechtskampf haben bis jetzt schon spärliche Truppen der bürgerlichen Demokratie mitgemacht, zum 1. Mai aber heißt es neue große Massen unserer Klassengenossen zusammenzuscharen mit der Losung Ferdinand Freiligraths:

Trotz alledem und alledem

Es kommt dazu trotz alledem,

Daß rings der Mensch die Bruderhand

Dem Menschen reicht trotz alledem.[3]

Arbeiterzeitung (Essen),

Nr. 88 vom 16. April 1910.

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[1] Vom 23. bis 25. Juni 1848 hatten sich Pariser Proletarier erhoben, weil die französische Bourgeoisie die Nationalwerkstätten hatte schließen lassen. Etwa 113000 Arbeiter blieben dadurch ohne Arbeit und Einkommen. Bourgeoisie, Kleinbürger und Monarchisten standen geschlossen gegen den Aufstand, der nach drei Tagen von der militärischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde. – Die Pariser „Blutwoche“ vom 21. bis 28. Mai 1871 führte zur konterrevolutionären Niederschlagung der Pariser Kommune, die als erster welthistorischer Versuch, eine Herrschaft der Arbeiterklasse zu errichten, am 18. März 1871 begonnen hatte. Beim brutalen Vorgehen der Regierungstruppen, verstärkt durch vorzeitig aus deutscher Kriegsgefangenschaft entlassene Truppen und begünstigt durch die im Raum Paris stationierten deutschen Armeekorps, wurden etwa 30000 Kommunarden getötet und etwa 85000 verhaftet, deportiert und zu Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen verurteilt.

[2] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag am 19. Oktober 1878 auf Druck von Otto von Bismarck angenommene Gesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündung in Kraft. Es stellte die deutsche Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes, unterwarf ihre Mitglieder Verfolgungen und Schikanen und erschwerte die Arbeit der Partei außerordentlich. Unter Druck der Massen und angesichts der Differenzen innerhalb der herrschenden Klassen, die sich im Reichstagswahlergebnis am 20. Februar 1890 widerspiegelten, lehnte der Deutsche Reichstag am 25. Januar 1890 mit 169 gegen 98 Stimmen die Verlängerung des Sozialistengesetzes in dritter Lesung ab. Siehe dazu u. a. Nach 20 Jahren. In: GW, Bd. 6, S. 232 ff.

[3] Ferdinand Freiligrath: Trotz alledem! In: Ein Glaubensbekenntnis. Zeitgedichte, Mainz 1844, S. 99.