Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 613

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So gab es denn damals auch in Belgien Versprechungen, das allgemeine Wahlrecht einzuführen. Die Vorlage kam, zwei Jahre dauerten die Schacherversuche, mit deren Hilfe man das Volk betrügen wollte. Da griff das ungeduldige Volk im April 1893 zum zweiten Massenstreik. 250000 Arbeiter beteiligten sich daran. Da geschah ein Wunder. Was in zwei Jahren nicht fertig werden konnte, wurde nun in zwei Tagen fertig! (Hört, hört!) Die Arbeiter kehrten zur Arbeit zurück. Zwar war es noch ein Pluralwahlrecht,[1] aber schon mit ihm war es möglich, daß 1894 bei der Wahl die Sozialdemokratie 28 Sitze, ein Fünftel aller Mandate, bekam. (Bravo!)[2]

Und wie war’s in Rußland vor fünf Jahren? Bis dahin war Rußland ein Rätsel. Mochten im Westen Revolutionen kommen, Throne krachen, Bürgerkriege wüten, Mütterchen Rußland schlief sanft in der Hut von Väterchen Zar. Da plötzlich erhob sich hunderttausendköpfig das Proletariat in Petersburg zum ersten Massenstreik.[3] Wir kennen die Antwort der Gewalthaber. Es waren Kartätschen, es waren Hügel von Leichen. Aber was half’s?

Die Bewegung sprang auf andere Städte über und im Oktober 1905 erlebten wir das nie gesehene Schauspiel eines gewaltigen Massenstreiks im ganzen russischen Reich, der alle Fabriken, die Post, die Eisenbahn stillegte[4] und den Zaren zwang, dem russischen Volk das Verfassungsmanifest[5] zu Füßen zu legen. Zweimal kam danach der Staatsstreich, aber die traurigen Reste jenes Verfassungsmanifestes, das Wahlrecht zur Duma, steht heute noch hoch über dem preußischen Wahlrecht. (Pfui!)

Nun sagt man zwar: Die Revolution in Rußland ist geschlagen, es herrscht die Knute, der Galgen. Aber sie herrschen heute nicht wie ehemals dank der Indifferenz der Massen, sondern der Absolutismus muß sich mit ihnen verteidigen, er kann sich nur erhalten in blutigem Zweikampf wider den Haß der Massen. Und wie heute die Herrschaft von Knute und Galgen permanent ist in Rußland, so ist der schlummernde Aufruhr permanent in den Massen. Die dauernde Frucht der Revolution ist das Erwachen der Massen des Proletariats, das über kurz oder lang den Sieg der Revolution verbürgt.

Auch in Preußen wird der Moment kommen, wo die Reaktion die Waffen streckt vor den gekreuzten Armen des Proletariats. Da helfen weder Kanonen, noch Bajonette! Vom 6. März teilte, bis jetzt unwidersprochen, das „Berliner Tageblatt“ mit, daß in der Kaserne des 1. Garde-Artillerie-Regiments die Kanonen mit scharfer Munition bereitstanden. (Lebhaftes Pfui!) In dem Moment, wo in Berlin die Kanonen gegen das Volk losknallen, gibt es in ganz Deutschland ein Echo, daß den Reaktionären Hören und Sehen vergeht. (Stürmischer Beifall.)

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[1] Das Pluralwahlsystem ist ein undemokratisches System, bei dem Wähler mit höherer Schulbildung, mit bestimmten Steueraufkommen usw. mehr als eine Stimme abgeben können.

[2] Am 12. April 1893 hatte die belgische Kammer den Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts und alle anderen Anträge für eine Wahlreform abgelehnt. Der Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei rief daraufhin am 13. April zum sofortigen Ausstand auf. Diesem Aufruf folgten etwa 250000 Arbeiter. Durch diesen Massenstreik vom 13. bis 18. April 1893, bei dem es zu Straßendemonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, sah sich die Kammer gezwungen, den Forderungen zu entsprechen. Sie beschloß am 18. April das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum, wonach eine Person unter bestimmten Voraussetzungen (Steueraufkommen, Schulbildung) mehrere Stimmen abgeben konnte. Am 14. April 1902 begann in Belgien erneut ein Massenstreik, an dem sich über 300000 Arbeiter beteiligten. Er wurde vom Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei jedoch am 20. April 1902 abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

[3] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06.

[4] Siehe Der Vormarsch der Revolution. In: GW, Bd. 6, S. 574 ff.

[5] Die zaristische Regierung hatte sich angesichts des politischen Generalstreiks im Oktober 1905 gezwungen gesehen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. Siehe Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus’ des Letzten. In: GW, Bd. 6, S. 600 ff.