Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 612

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Nach dem äußern Schein gibt es nur zwei getrennte Lager: Die Sozialdemokratie und die Wahlrechtsfreunde auf der einen Seite und Zentrum und Junkertum auf der anderen Seite. Aber, Genossen, das ist nur äußerer Schein und oberflächlich. Aber wenn man tiefer in die Zusammenhänge blickt und den historischen Werdegang der Parteien übersieht, so erblickt man die Sozialdemokratie ganz allein und sämtliche bürgerliche Parteien als Klassen ihr gegenüber. Wir sind ganz allein, wenn es darauf ankommt, die Reaktion zu bekämpfen. Folgt aber daraus für uns, zu verzagen? Sollen wir uns schwach fühlen, daß der geschichtliche Werdegang uns ganz allein ließ im Kampfe? Wir haben keinen Grund, uns über den geschichtlichen Werdegang zu beklagen. Es genügt, daß die große Masse des Proletariats ganz auf sich gestellt ist und weiß, daß der Wahlrechtskampf nur eine Episode ist im größeren Klassenkampfe. Wir sind im Kampfe um den politischen Fortschritt ganz allein. Aber wir sind Millionen Männer und Frauen. Wir sind jene Millionen, durch welche der Staat existiert. Es genügt, daß man versteht, darüber nachzudenken.

Stellen wir uns nur einmal vor, was es bedeutet, wenn ein Augenblick kommt, in dem das Proletariat das Schwert aus der Scheide zieht, das berufen ist, ihm entscheidende Siege zu bringen. Ich meine, die einfache Tatsache, daß früher oder später der Proletarier nichts anderes tut, als die Arme zu kreuzen und zu erklären: Alle Räder stehen still. (Lebhafte Zustimmung.) Wenn wir uns das nur vorstellen, daß einmal in Preußen alle Räder, ja nur die Hälfte, nur ein Viertel stille stehen, wie bald wird sich da die Miene der Gewaltherrscher ändern müssen! Es genügen 24 Stunden eines solchen Vorgehens, um zu beweisen, daß Staat und Gesellschaft wohl ohne Junker, ohne Geheimräte, ohne Reichskanzler, ja sogar ohne Schutzleute (Heiterkeit.) existieren könne, nicht aber, wenn in Grube und Hütte, Fabriken und Werkstätten, im Transport-, Elektrizitäts-, im Hafenbetrieb usw. die Arbeiter die schwielige Faust von der Arbeit wegziehen. (Lebhafte Zustimmung.)

Ein Blick nach Belgien beweist uns dies. Bis in die 80er Jahre war Belgien das Paradies der Kapitalisten. Kein Arbeiterschutz, 14- bis 16stündige Arbeitszeit, Zensuswahlrecht, Verwahrlosung der Volksschule, so sah Belgien aus. Es herrschten über die Geister der Arbeiterklasse die Schnapsflasche und der fanatische Pfaffe. Plötzlich brach 1886 eine Sturmflut von Streiks herein und mit ihr kam der Ruf: Her mit dem allgemeinen Wahlrecht. Die Antwort war genau wie in Preußen: Polizeiliche Verbote, Kerkerstrafen, Blutvergießen. Fünf Jahre scheinbarer Ruhe folgten, bis 1891 mit der Maifeier sich das belgische Proletariat zum ersten Massenstreik für das Wahlrecht erhob. 125000 Arbeiter, für das kleine Ländchen eine große Zahl, standen in wenigen Tagen im Streik für das Wahlrecht. Die Bajonette halfen nichts. Kann irgendein Staat, und sei er der mächtigste, 125000 Arbeiter niedermetzeln? Nein, er mordete ja die Biene, von der die Drohne lebt! Oder kann das Bajonett den Arbeiter zwingen, die Maschine in Bewegung zu setzen? Auch das nicht!

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