Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 611

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Wer ist der mächtigste Hort des Junkertums? Die preußische Monarchie und das deutsche Kaisertum! Wer ist der Feind der Arbeiterklasse? Das persönliche Regiment – das uns die Zuchtshausvorlage[1] beschert hat. (Sehr richtig!) Die Entwicklung hätte einen ganz anderen Weg genommen, wenn man den morschen deutschen Thron und die zwei Dutzend deutschen Thrönchen in Stücke geschlagen hätte. (Beifall.) Das wäre Pflicht der Bourgeoisie gewesen.

Wer ist denn die deutsche Bourgeoisie? Es sind Großkapitalisten, Fabrikanten, Kaufleute, lauter Klassen und Schichten, die direkt an der Ausbeutung des Proletariats interessiert sind. Die Liberalen haben schon damals das Proletariat gehaßt und mehr gefürchtet, als die ganze Reaktion. Während bei uns nicht einmal das Bürgertum vermochte, die Republik zu proklamieren, waren in Frankreich die Proletarier viel weiter. Der deutsche Liberalismus schaute mit Angst nach Frankreich und klapperte mit den Zähnen, daß auch bei uns einmal die rote Fahne wehen könnte. Deshalb schloß der Liberalismus Friede und Freundschaft mit dem Junkertum.

Während man sich im Parlament um ein Stück Papier, genannt: Verfassung, herumstritt, am Tage, als Robert Blum in Wien erschossen wurde,[2] schritt General Wrangel mit seinen Truppen in die Stadt Berlin hinein und jagte die Nationalversammlung zum Teufel.[3] Im nächsten Jahre wurde das allgemeine Wahlrecht abgeschafft und das Dreiklassenwahlrecht oktroyiert.[4] So hat der Liberalismus die Freiheit schon in der Geburtsstunde verraten. Jedes weitere Jahr war ein weiterer Schritt im Verfall des Liberalismus. Sie gaben jede ihrer Forderungen preis und haben sich verwandelt in jenes Sinnbild der Jämmerlichkeit, wofür der deutsche Volksmund den Namen „Drehscheibe“ erfunden hat. (Heiterkeit.) Ebenso ging es dem Freisinn![5] Die Anbetung der nackten Staatsgewalt, die Furcht vor dem aufstrebenden Proletariat, der Kampf um den Militarismus spalteten ihn in die männliche und weibliche Linie. Es soll dem Freisinn nie vergessen werden, wie in jener denkwürdigen Adventsnacht Eugen Richter sich zum Fußschemel der Reaktion ergeben hat.[6] Damit geriet er in einen Sumpf, aus dem er sich heute noch nicht gerettet hat. Heute hat sich der dreifach gespaltene Freisinn wieder zusammengeschlossen. Weshalb ist diese Vereinigung möglich gewesen? Weil sie alle drei gleich tief im Sumpfe stachen! Vorausgegangen ist die berühmte Blockpolitik.[7] Sie erinnern sich, unter welchen Bedingungen man sich unter Bülow mit dem Junkertum vereinigt hatte. Sie bedeuten den Flotten-Kolonialrummel, die Unterstützung schwärzester Reaktionäre in den Wahlkämpfen. Heute verlangen sie, daß man sie ernst nehme im Kampfe um die Wahlreform.

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[1] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November 1899 abgelehnt.

[2] Am 9. November 1848 war Robert Blum, obwohl er als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung Immunität besaß, wegen seiner Teilnahme am Wiener Aufstand von den konterrevolutionären österreichischen Truppen standrechtlich erschossen worden.

[3] Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel war am 10. November 1848 Militär in Berlin einmarschiert, um den konterrevolutionären Staatsstreich in Preußen zu unterstützen.

[4] Gemeint ist das preußische Dreiklassenwahlrecht. Es war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.

[5] Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.

[6] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.

[7] Nach den Reichstagswahlen von 1907 schlossen sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülowblock („Hottentottenblock“) zusammen. Gestützt auf diesen Block war es Reichskanzler Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen. Dieser Block zerbrach am 10. Juli 1909, als der Reichstag die Erbschaftssteuer ablehnte.