Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 610

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Der Parlamentsbericht verzeichnet hier den Zuruf „Sehr richtig!“ aus dem Zentrum. Wenn Worte einen Sinn haben, so bedeutete dies, daß das Zentrum die Regierungsvorlage ablehnen würde. Doch dies war nur Blendwerk für die Arbeiteranhänger dieser perfiden Partei. In dem engen Zimmer der Kommission hat das Zentrum die volle geheime Wahl abgelehnt und die Öffentlichkeit der Wahl durch die Wahlmänner wieder mit hergestellt. Als unsere Presse dies festnagelte, redete sich das Zentrum damit heraus, daß es nur das Opfer der Böswilligkeit anderer Menschen geworden sei. Nach diesen Erklärungen der Zentrumspresse hat der konservative Abgeordnete Gescher in einer Sitzung des Bundes der Landwirte in Westfalen jedoch Veranlassung genommen, den Sachverhalt klarzustellen, wobei die Mitwelt erfuhr, daß das Zentrum die Vorschläge der Gestaltung der Wahlrechtsvorlage selbst gemacht hat.[1] Über diese Verlogenheit des Zentrums darf man sich nicht wundern; es weiß, was es der Lammsgeduld seiner Wähler, die es im religiösen Banne hat, zutrauen darf.

Die Nationalliberalen strebten in der Kommission ebenfalls für Vorrechtstimmen, und zwar sollten alle die Arbeiter auch mit Mehrstimmenrecht versorgt werden, die zwölf Jahre bei einem Arbeitgeber beschäftigt gewesen sind. Das wäre allgemein betrachtet eine Konzession an die Dummheit gewesen. Wegen dieses Vorschlags wurde denn auch vom Zentrum nur Hohn und Spott über die Nationalliberalen ausgeschüttet. In diesem zweiten Stadium ihrer Entwicklung erfuhr die Wahlrechtsvorlage also noch neue Verschlechterungen, trotz der Bethmann Hollwegschen Ungeheuerlichkeiten. Im dritten Stadium, als die Vorlage wieder ins Plenum kam, ist dann das Abiturprivileg noch geschaffen worden, desgleichen die Terminwahl an Stelle der Fristwahl, um den Wählern das Wahlrecht noch mehr zu verekeln.

Wie kommt es nun überhaupt, daß heute in Preußen, obgleich es auf Großindustrie und Welthandel angewiesen ist, zwei Parteien die politische Führung haben, die mit ihren Anschauungen im Mittelalter wurzeln? Wo ist der Träger der heutigen Wirtschaftspolitik, der Liberalismus? Ihm gelang es doch 1848, das Heft in [die] Hände zu bekommen,[2] er hatte Ministerposten inne, aber er kam nicht zur Herrschaft infolge seiner eigenen Feigheit, die wesentlich begründet war von der Angst der aufsteigenden Arbeiterklasse. Man hätte den Staat reformieren müssen, das vormärzliche Beamtentum zum Teufel jagen müssen, den verräterischen König absetzen und die Republik in Deutschland proklamieren müssen. (Lebhafter Beifall.) Genossen, wäre das geschehen, dann wäre auch die Frage der deutschen Einheit gelöst worden, und wir hätten nicht nötig gehabt, sie blutig aus den Händen Bismarcks zu empfangen, wir hätten nicht den Moloch Militarismus und die ungeheuren indirekten Steuern. Wir hätten dann nicht die Frage des Junkertums und des Zentrums gehabt.

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[1] Das hatte Alfred von Gescher auf der westfälischen Provinzialversammlung des Bundes der Landwirte am 19. März 1910 erklärt, wie die Kölnische Zeitung am 21. März 1910 berichtete. Zitiert nach: Volkswacht (Breslau), Nr. 71 vom 25. März 1910.

[2] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.