Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 609

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Wir haben zu zeigen, daß die Schicksale aller großen Probleme der Gegenwart nicht im Parlament, sondern draußen auf der Straße entschieden werden. (Lebhafte Zustimmung.) Dort muß die Entscheidung über die preußische Wahlrechtsfrage fallen und wir haben dafür zu sorgen, daß sie so fällt, wie es den Wünschen und Interessen der breiten Masse der Bevölkerung entspricht. (Bravo!)

Wir haben uns deshalb als reife Politiker, die vor neuen schweren Schlachten stehen, Rechenschaft abzulegen über die Lehren aus dem bisherigen Abschnitt des Wahlrechtskampfes und die großen Linien unseres Weitermarsches zu entwerfen.

Als die Regierung, gedrängt durch die Wucht der Wahlrechtsbewegung, mit ihrer Vorlage kam,[1] erhob sich in der ganzen Welt ein homerisches Hohngelächter über diese echt preußisch-bürokratisch-bornierte Verhöhnung der Volksforderungen, wie sie diese Vorlage brachte. All die Infamien, unter denen das Volk litt, wollte diese Vorlage verewigen, die Dreiklassenteilung, durch welche ein paar hunderttausend der „Edelsten und Besten“, die Besitzer der abgrundtiefen patriotischen Geldtaschen, die zum großen Teil die Arbeit nie berühren, zirka sieben Millionen Staatsbürger vergewaltigen. Zwar sollte die indirekte Wahl fallen, aber die Dreiklassenteilung, die öffentliche Stimmabgabe und die schandbare Wahlkreiseinteilung sollten bleiben. Erhoben in eine höhere Wählerklasse sollten werden, die dank des Geldsacks ihrer Eltern die Universitätsbänke drücken oder als „Kulturträger“ auf dem Kasernenhof Rekruten drillen konnten, die gelegentlich einmal berufen sein sollten, auf Vater und Mutter zu schießen.

Zu verpfuschen gab’s an dieser Vorlage nichts, sollte man meinen, und doch brachte der Schnapsblock es fertig, sie auf den Kopf zu stellen, die direkte Wahl zu beseitigen und ein scheinbar geheimes Wahlrecht, das für die Urwahlen, einzuführen. Ihrem Wesen nach waren die Vorlage wie das Endprodukt echt reaktionär, nur die Vorlage offen, das jetzige Produkt dagegen scheinheilig. Das letztere ist natürlich kein Wunder, denn Pate gestanden bei diesem Produkt hat ja die Partei, die auf ihrer Fahne stehen hat: „Für Wahrheit, Freiheit und Recht“, das Zentrum. Die scheinheilige Arbeit dieser Partei, die ja auch hier im Westen leider noch große Mengen Arbeiter hinter sich hat, genau zu verfolgen, ist deshalb eine wichtige Aufgabe für uns.

Bei der ersten Lesung der Wahlrechtsvorlage gab am 11. Februar der Zentrumsabgeordnete Herold diese prinzipielle Erklärung ab:

„Unsere prinzipielle Stellung zum preußischen Wahlrecht ist unverändert. Was das Reich im Reichstagswahlrecht gewährt, wird auf die Dauer auch den Einzelstaaten nicht vorenthalten werden können. (Sehr richtig! im Zentrum.) Von diesem Standpunkte kann die Vorlage nicht unsern Beifall finden. Das Reichstagswahlrecht hat sich durchaus bewährt, der Reichstag steht mit seinen Leistungen hinter keinem Parlamente zurück, auch nicht hinter dem Abgeordnetenhause.“[2]

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[1] Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Änderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen.

[2] Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 2. Bd., Berlin 1910, Sp. 1478.