Maigedanken
[1]Nichts beleuchtet so grell und schmerzlich den Abgrund, der sich im Dasein der sozialistischen Arbeitermassen aller Länder zwischen einst und jetzt aufgetan hat, wie der Tag des 1. Mai. Mit welchen Gefühlen, mit welchen Wünschen und Hoffnungen blickten wir sonst auf den Weltfeiertag der Arbeit! Für Millionen Proletarier und Proletarierinnen war er der alljährliche Bote und Künder der Völkerverbrüderung, des Weltfriedens, des großen Bruderbundes der Arbeiter aller Zungen und Zonen. Und heute! … Schon zum zweiten Male geht die Sonne des 1. Mai über einem furchtbaren Blutmeer auf. Fast zwei volle Jahre dauert die gegenseitige Zerfleischung der Völker, und die ersehnte Retterin der Menschheit, die proletarische Internationale, ist zertrümmert.
Auch in der tiefsten Not, ja gerade in der Not ist es das beste, dem Lassalleschen Grundsatz gemäß „auszusprechen, was ist“.[2] Die sozialistische Internationale liegt am Boden, sie ist nicht mehr. Sich oder andere darüber zu täuschen, hieße gerade die verhängnisvolle Politik der Illusionen geflissentlich weiter nähren, die vor unseren Augen schmählich Bankrott erlitten hat. Aber der Gedanke an den 1. Mai beleuchtet nicht nur den Ruin der zweiten Internationale, er weist auch hin auf das Warum ihres Zusammenbruchs und das Wie ihrer künftigen Auferstehung.
Wenn die zweite Internationale sich plötzlich, binnen vierundzwanzig Stunden, in Dunst auflösen konnte, so beweist das nur, daß ihr Dasein früher schon in der Luft schwebte. Wenn sie in der Stunde der Entscheidung auf die Empfindungen und das Handeln der Massen so gar keinen Einfluß hat ausüben können, so zeigt diese Tatsache, daß die Internationale im geistigen Leben der Massen überhaupt noch keine Wurzel geschlagen hatte. Und hier steckt der Knoten des Problems.
[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Rosa Luxemburgs Brief an Clara Zetkin vor dem 30. April 1916 ist sie wahrscheinlich die Verfasserin. „Liebste, ich schreibe in einer bestialischen Migräne, das soll mich nicht entschuldigen, aber Dein Urteil mildern über Verspätung wie Leistung. Ich glaube, das Thema ließ sich nicht anders wählen, denn schweigen konnte die ‚Gleichheit‘ nicht. Andererseits ging es nicht an, hier die Frage in allen Einzelheiten zu beleuchten […] Ich hielt es also für meine Aufgabe, nur einen allgemeinen Dämpfer auf das Glücksgegacker der ‚Leipziger Volkszeitung‘ und des ‚Vorwärts‘ zu setzen und die Massen zur Energie aufzurufen. In diesem Sinne wird der Artikel nur eine kleine Dusche sein, und das genügt hier und diesmal. Später kann man ja den Faden fortspinnen. Ich hoffe, ich bin in den Grenzen der Zensur nicht zu deutlich geworden.“ Siehe GB, Bd. 5, S. 114 f.
[2] Siehe S. 576, Fußnote 3.