Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 914

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Treffliche Worte

[1]

In einem Teil der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterpresse wird gegenwärtig gegen ein „sehr kleines Häuflein“ deutscher Sozialdemokraten mobil gemacht, das angeblich die deutsche Nation ans feindliche Ausland verraten will.[2] Man muß nun gewiß zugeben, daß dies „sehr kleine Häuflein“ sich sträubt, die Grundsätze, die die deutsche Arbeiterklasse seit fünfzig Jahren vertreten hat, zum Fenster hinauszuwerfen, und sogar einiges Unbehagen darüber empfindet, daß die paar liberalen Errungenschaften von Presse- und Redefreiheit durch den Kriegszustand verlorengegangen sind.

Allein jene gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterblätter stellen an das „sehr kleine Häuflein“ auch ein bißchen weitgehende Anforderungen. Es soll gar noch eine Art patriotischen Wonneschauers empfinden, weil es das Glück hat, unter der Militärzensur zu leben. Das „sehr kleine Häuflein“ könnte darauf mit dem Ersuchen antworten, seine Ankläger möchten sich nicht zu sehr kapitalistischen Gewohnheiten nähern, indem sie an Produktionskosten zu sparen suchten und sich daran genügen lassen, den alten Brei wieder aufzuwärmen, der im Jahre 1870 dem „sehr kleinen Häuflein“ der Bebel und Liebknecht – allerdings nicht aus Arbeiterkreisen – vorgesetzt wurde.[3] Jedoch diese schüchterne Bitte würde dem „sehr kleinen Häuflein“ voraussichtlich als ruchlose Anmaßung ausgelegt werden, und so würde es ganz hilf- und ratlos dastehen, wenn seine Bedenken gegenüber der Militärzensur nicht vortrefflich begründet würden durch die „Deutsche Tageszeitung“, das Organ der konservativen Agrarier, das gewiß ebenso patriotisch denkt, wie die erwähnten Arbeiterblätter.

Die „Deutsche Tageszeitung“ erläutert den Standpunkt des „sehr kleinen Häufleins“ also: „Die Beschwerden gelten nicht der Handhabung der militärischen Zensur,

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburg ist aber gewiß die Autorin, denn Mathilde Jacob hat auf ihrem Exemplar handschriftlich RL vermerkt.

Nr. 1 der Sozialdemokratischen Korrespondenz (SK) war am 27. Dezember 1913 mit Rosa Luxemburgs Artikel Arbeitslos! in Berlin erschienen. Siehe GW, Bd. 3, S. 363 ff. Angekündigt worden war die SK durch Julian Marchlewski, Rosa Luxemburg und Franz Mehring am 17. Dezember 1913, nachdem es mit der Redaktion der Leipziger Volkszeitung zum Bruch gekommen war. Unter Brüskierung von Julian Marchlewski, des amtierenden Chefredakteurs der LVZ, war Anfang Oktober 1913 Rosa Luxemburgs kritischer Artikel Nach dem Jenaer Parteitag, auf dem heftige Debatten mit und über Rosa Luxemburg stattgefunden hatten, abgelehnt worden. Siehe GW, Bd. 3, S. 243 ff. und 358 f. Die SK erschien 1913/1914 dreimal wöchentlich, ab Januar bis Mai 1915 nur noch einmal wöchentlich mit der Wirtschaftlichen Rundschau von Julian Marchlewski.

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges mit Belagerungszustand und Pressezensur signierte Rosa Luxemburg ihre Beiträge für die SK nicht mehr, um den Polizei- und Militärbehörden keine Anhaltspunkte für Anklagen zu geben.

Glücklicherweise sind viele Nummern der SK bei Mathilde Jacob erhalten geblieben. Auf ihnen befinden sich von Mathilde Jacob handschriftlich die Initialen der Autoren vermerkt. Sie hat bekanntlich die Manuskripte von Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Julian Marchlewki für die SK abgeschrieben. Ihre Sammlung der SK wurde ca. 1940/41 an die Familie von Fritz Winguth, Berlin, übergeben und ist seit den 1980er Jahren in Privatbesitz. Kopien davon befinden sich in Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, in den Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers und bei Ottokar Luban, Berlin. Über die Auswertung siehe Ottokar Luban: Erstmalig identifizierte Artikel Rosa Luxemburgs in den Kriegsnummern der „Sozialdemokratischen Korrespondenz“ (August bis Dezember 1914). In: Rosa Luxemburg im internationalen Diskurs. Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Chicago, Tampere, Berlin und Zürich (1998–2000). Hrsg. von Narihiko Ito, Annelies Laschitza und Ottokar Luban, Berlin 2002, S. 276 ff.; ders.: Mathilde Jacob – mehr als Rosa Luxemburgs Sekretärin! In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 6, Leipzig 2008, S. 196 ff., bes. S. 210. – Siehe auch Hannah Lotte Lund: „Ich umarme Sie mit großer Sehnsucht“, Rosa Luxemburg und Mathilde Jacob. In: Elke-Vera Kotowski, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund: Zweisamkeiten. 12 außergewöhnliche Paare in Berlin, Berlin 2016, S. 89 ff.

[2] Gemeint sind die Linken um Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring und Clara Zetkin und deren Gegnerschaft zur Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914. Siehe dazu u. a. Rosa Luxemburg an Carl Moor am 12. Oktober 1914. In: GB, Bd. 5, S. 14 ff.

[3] August Bebel und Wilhelm Liebknecht hatten sich im November 1870 im Norddeutschen Reichstag gegen den Eroberungskrieg und gegen die Annexionsbestrebungen der herrschenden Klassen in Deutschland gewandt und offen ihre Solidarität mit dem französischen Volk bekundet. Sie lehnten die Kredite zur Weiterführung des Krieges gegen die junge französische Republik ab und wurden deshalb von den bürgerlichen Abgeordneten heftig angegriffen und beschimpft.