Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 913

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Shelley, Darwin und Livingstone, eines Condorcet, Voltaire und Rousseau. Und auch die letzte fortschrittliche Idee, die aus den Tascheninteressen der Bourgeoisie geboren wurde, der freihändlerische Liberalismus umwand seine nackte Losung der freien Konkurrenz mit dem dürftigen theoretischen Schleier einer natürlichen Solidarität der Interessen nicht nur zwischen den Individuen, sondern zwischen den Nationen.

Der imperialistische Sturm und Drang zerriß diese letzten Schleier der bürgerlichen Menschheitsideale. Was wir heute in den Bekenntnissen deutscher Gelehrter und Künstler zum Evangelium des Völkerhasses tagtäglich lesen, ist nur ein plötzlicher Ausbruch der inneren Reaktion einer Gesellschaftsordnung, die jeden Glauben an ihre einstigen Jugendideale verloren hat und nur noch in dem brutalen Faustrecht ihr einziges Existenzrecht erblickt. Sie sind ein Dokument dafür, daß nicht Millionen asiatischer und afrikanischer Menschheit, wohl aber die paar Dutzend Ideologen eine Art Halbaffen geworden sind, die in ihrer Sprunghaftigkeit der Gesinnung und der Fähigkeit für die Dressur einen nie dagewesenen Verfall aufzeigen. Es ist ein geschichtliches Urteil, das die bürgerliche Kultur sich selbst in Bekenntnissen der Sombart, Dehmel, Haeckel und der anderen spricht.[1] Unsere 42er Haubitzen haben nicht bloß die Forts von Lüttich und Antwerpen, sondern auch die letzten Forts der bürgerlichen Ideologie zerschossen. Die Spuren schrecken. Das Beispiel der Sombart und der anderen Hasser und Verächter fremder Völker ist für das klassenbewußte Proletariat das beste Warnungszeichen. Die Verfallsideologie einer herrschenden Klasse darf nimmermehr zur Ideologie einer aufstrebenden Klasse werden.

Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin),

Nr. 115 vom 6. November 1914, Kopie.

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[1] Gemeint ist der Aufruf an die Kulturwelt vom Oktober 1914, in dem sich 93 bürgerliche Intellektuelle und Künstler, darunter Richard Dehmel und Ernst Haeckel, mit Berufung auf das Vermächtnis Goethes, Beethovens und Kants hinter die verleumderischen Meldungen über Greueltaten französischer und russischer Soldaten stellten, die Lüge vom Verteidigungskrieg wiederholten, den Bruch der belgischen Neutralität verteidigten, die vermeintliche Einheit des Volkes beschworen und den deutschen Militarismus als Beschützer der deutschen Kultur lobten.