Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 912

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gleicht und eine Bevölkerung von mehr als 50 Millionen hat, also nach europäischem Maßstab ein Großstaat ist, nicht neben Monaco und Montenegro gestellt haben. Doch wichtiger sind die „reinen Instinkte“ eines Vertreters der bürgerlichen Gelehrtenwelt, die sich in dem obigen Erguß eines bürgerlichen Intelligenzblattes austoben.

Der Weltkrieg hat gar manche Dinge, Verhältnisse, Begriffe und Beziehungen auf den Kopf gestellt. Doch hat er sie dadurch eigentlich, was die Geschichte als derbe Kritikerin in revolutionären Perioden stets zu besorgen pflegt, erst vom Kopf auf die Füße gestellt. Indem der Krieg die Dinge umstülpt, zeigt er nur, daß der Schein der Dinge, der bislang Geltung hatte, ein verkehrter war. Der Krieg zeigt uns heute Klassen und Verhältnisse, wie sie ihrem Wesen oder ihrem derzeitig erreichten Entwicklungsgrad nach sind, nicht, wie wir sie unter der Maske der Tradition und der konventionellen Lüge aus den Friedenszeiten zu sehen gewohnt waren. Kratzt ein wenig den Russen und ihr werdet den Barbaren finden, – so hieß es früher. Kratzt einen Gelehrten, einen Künstler, einen Dichter heute in Deutschland und was findet ihr? … Unter der dünnen Politur der geistigen Gesittung gähnt rohe Verachtung für ganze Völker, fließt der Geifer des Hasses für Millionen von Menschen anderer Sprache und anderer Gesichtsfarbe. Was sind Barbaren? Heute ist man gewöhnt, sich darunter Menschen vorzustellen, die in Feindesland kleine Kinder fressen, Mädchen vergewaltigen oder Verwundeten die Augen ausstechen. Die alten Griechen, die das Wort aufgebracht haben, verstanden darunter Völker, die sie wegen der fremden Mundart nicht verstehen konnten, – das Wort war vor allem auf die Germanen gemünzt, deren raue Laute unverständlich an das griechische Ohr schallten. – „Barbaren für einander sein“,[1] hieß im Altertum jedes Verständnisses für einander zu entbehren. In diesem höheren griechischen Sinne sind alle die Gelehrten, die gestern noch auf internationalen Banketten zur Ehren der hehren Wissenschaft Reden schwangen und heute die Verachtung für fremde Völker predigen, die Poeten, die gestern noch von Liebe, Mondnacht und Maiglöckchen säuselten und heute ihre Harfen zu rostigen Akkorden des blutigen Völkerhasses zupfen, sie alle sind Barbaren, denen das Verständnis für fremde Sitten und Kulturformen, für die geistige Gemeinschaft der ganzen Menschheit abhanden gekommen ist. Aus dieser Gemeinschaft ward aber geboren, an ihr entzündete sich noch jede Flamme des menschlichen Aufstiegs und der Befreiung. Durch und durch international, von verschiedenen Nationen erzeugt und getragen war die Renaissance, die Reformation und der Humanismus am Ausgang des Mittelalters, die große Revolution des Geistes durch die Philosophie vor der großen Revolution der Dinge in Frankreich und diese Revolution selbst sowie ihr Nachklang im Jahre 1848. Um die weltumspannende Idee der menschlichen Solidarität, der Kulturgemeinschaft alles dessen, was Menschenantlitz trägt, rankten sich die Gedanken der größten Geister der bürgerlichen Welt: eines Kant und Goethe, eines

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[1] Ebenda.