Die Lehren des Wahlrechtskampfes. Rede am 12. April 1910 auf einer Volksversammlung im Gewerkschaftshaus in Dortmund
Nach einem Zeitungsbericht
Parteigenossen und Parteigenossinnen! In einer sehr ernsten Stunde haben wir uns versammelt. Der heutige und der vorgestrige Tag waren zwei bedeutungsvolle Tage in unserem Wahlrechtskampfe. Am letzten Sonntag haben wir so wuchtig gegen die Verhunzung des preußischen Wahlrechts demonstriert, daß es wie ein Donnerwetter in die herrschende Gesellschaft gefahren ist.[1] Man braucht sich nur die bürgerlichen Blätter anzusehen, um zu erfahren, daß man sich auch auf jener Seite des gewaltigen Eindrucks nicht entziehen kann. Ich war am 6. März bei der berühmten Wahlrechtsdemonstration im Treptower Park, d. h. im Berliner Tiergarten.[2] Es war ein Frühlingstag, hold und schön wie der vorgestrige Sonntag. Wie eine friedliche Kulturmacht stand die Menge da, nur ihr Ruf, ihr tausendfacher Ruf nach dem freien Wahlrecht ertönte. Keinem Menschen war ein Haar gekrümmt worden. Da sprengte plötzlich eine Polizeipatrouille gleich einer wilden Horde in die friedliche Menge hinein. (Pfui!) Ja, Pfui, tausendmal Pfui: das war auch die Antwort jener Massen im Berliner Tiergarten. Sie wurden nieder geritten von denselben Leuten, die sie als Steuerzahler füttern, die sie bezahlen. Wie in Berlin, so hat man es auch an anderen Orten gemacht. Bei allem aber sind wir Sieger geblieben![3] (Lautes Bravo!) Als wir in der vorigen Woche noch die großen Versammlungen unter freiem Himmel ankündigten, da verbot man uns noch alles. Im letzten Moment aber hat „oben“ der Wind umgeschlagen. Es war die Einsicht, daß man gestatten mußte, was man nicht mehr verbieten konnte. Man hat Angst bekommen vor dem festen Willen des Proletariats. (Stürm[isches] Bravo!) Am letzten Sonntag hat es den ersten Sieg im Wahlrechtskampf errungen; die erste Bresche haben wir in den Wall der brutalen Reaktion geschossen. (Laute Zustimmung.) Eine halbe Million reifer Männer und Frauen rief vorgestern: Her mit dem gleichen, allgemeinen Wahlrecht!, und was geschah heute im preußischen Abgeordnetenhause? Wiederum hat man die Stirn gehabt, dasselbe Scheusal von neuem anzunehmen! (Stürm[isches] Pfui!) Dem Volke hat man einen Faustschlag ins Gesicht versetzt.
[1] Am 10. April 1910 hatten in ganz Preußen und in anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht stattgefunden, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wieder erkämpft hatten.
[2] In der Quelle: Tierpark.
[3] Siehe auch Rosa Luxemburg: Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Referat am 6. April 1910 auf einer Volksversammlung in Bremen. In: GW, Bd. 7/2, S. 584 ff.