Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 600

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Freilich soll das Werk in wenigen Tagen vor jenes Forum, das natürlich in Preußen das Höchste ist, vor die Versammlung jener Herren, die geborene Gesetzgeber sind, die aus dem Mutterleib in die Bürgerrechte hineinwachsen. (Heiterkeit.) Das Herrenhaus wird nun über das Schicksal der Wahlrechtsvorlage zu entscheiden haben. Dann sind die Würfel gefallen. Wie die Würfel auf der Straße fallen, darüber werden die Massen noch ein Wort zu reden haben. (Sehr richtig!)

Sie werden sich alle erinnern, daß auf das allgemeine Drängen der immer ungeduldiger werdenden proletarischen Massen endlich eine Regierungsvorlage zur Reform des preußischen Wahlrechts erschien, jene berühmte Vorlage des philosophischen Reichkanzlers v. Bethmann Hollweg,[1] die in der ganzen Kulturwelt ein homerisches Gelächter erzeugte. Eine schlimmere Verhöhnung des preußischen Volkes, als es durch diese Vorlage geschehen ist, konnte es gar nicht geben. Alle Infamien eines Wahlsystems, das Bismarck einmal das elendeste aller Wahlsysteme genannt hat, sollten aufrechterhalten werden.[2] Uns Sozialdemokraten wird von den Gegnern sehr oft der Vorwurf gemacht, wir seien eine böse Gesellschaft von Aufwieglern, die die eigene Nation in verschiedene Klassen spalten und den Haß zwischen diesen präge. Was tun jetzt diejenigen, die uns Sozialdemokraten diese Sünden vorwerfen? Sie wollen ein Gesetz verewigen, welches öffentlich vor aller Welt die preußische Nation in drei Klassen einteilt. Wenn es je ein Gesetz gegeben hat, welches den Klassenhaß und den Klassenkampf zur öffentlichen Einrichtung erhoben, so ist es das preußische Wahlsystem. (Sehr richtig!) Die öffentliche Stimmabgabe sowohl wie die alte Wahlkreiseinteilung soll aufrechterhalten werden. Als die einzige scheinbare Konzession an die Forderungen des Volkes soll das Wahlmännerystem, die indirekte Wahl, abgeschafft werden. Ferner war vorgesehen, daß gewisse Schichten der dritten Wählerklasse mit mehr Wahlrecht bedacht werden sollen. Die Militäranwärter, die Zöglinge der Kasernenhoferziehung, und die Zöglinge der Universität sollten als eine bessere Menschenklasse herausgehoben und mit einem größeren Stimmrecht beglückt werden. Sie werden nun annehmen, daß an einem so verhunzten Scheusal nichts schlechter zu machen möglich war. Es hat sich aber herausgestellt, daß die Wahlrechtskommission das Kunststück fertigbrachte, die volksfeindliche Vorlage der Regierung noch volksfeindlicher zu gestalten.

Parteigenossen, um Ihnen die Hauptsache nur mit zwei Worten zu erwähnen. Die Wahlrechtskommission hat den Wechselbalg des Herrn Bethmann Hollweg auf den Kopf gestellt. Die indirekten Wahlen wurden wieder in die Vorlage hineingefügt, dahingegen an Stelle der gänzlichen Öffentlichkeit der Stimmabgabe eine scheinbare geheime Wahl, aber bloß für Urwähler, eingeführt, während die Wahlmänner nach wie vor als Vertrauensmänner des Proletariats ihre Stimmabgabe öffentlich vollziehen

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[1] Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Änderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen.

[2] Gemeint ist das preußische Dreiklassenwahlrecht. Es war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.