Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 601

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/601

sollen. Das Werk der Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses ist nur noch perfider, verlogener, scheinheiliger und noch mehr darauf berechnet, dem Volke Sand in die Augen zu streuen. Das ist kein Wunder, denn das Zentrum hat bei der ganzen Wahlreform Pate gestanden. Es verlohnt sich, dieses Verhalten ein klein wenig unter die Lupe zu nehmen. In der ersten Lesung führte im Plenum des Abgeordnetenhauses der Zentrumsredner Herold nach dem offiziellen Stenogramm in unzweideutiger Weise aus, daß das Zentrum auf dem Standpunkte verharre, daß das, was das Reich auf dem Gebiete des Wahlrechts durch seine Verfassung seinen Bürgern gewährt, auch in den Einzelstaaten den Bürgern in entsprechender Weise gewährt werden muß.[1] Eine Woche später hat das Zentrum dann aber in der Wahlrechtskommission die Forderung des gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts niedergestimmt. Nachdem die Sozialdemokratie in ihrer Presse diesen unerhörten Wortbruch festgenagelt [hat], versuchte das Zentrum sich herauszureden. Die Zentrumspresse stellte es so dar, als [sei] sie einfach das Opfer der Böswilligkeit anderer Leute geworden. Nach dem Willen des Zentrums hätten wir, so verkündet die Zentrumspresse, alle Schönheiten des Reichstagswahlrechts. Aber die bösen Konservativen hätten nicht gewollt, wenn nicht die indirekte Wahl für die Wahlmänner wieder aufgenommen werde. Aber es sollte dieser Partei einmal wieder schiefgehen. Einige Tage nach dieser Erklärung kamen Konservative und sagten uns in aller Öffentlichkeit, wie der Kuhhandel zustande gekommen ist. Ein Führer der Konservativen, von Gescher, erklärte auf der Provinzialversammlung des Bundes der Landwirte hier in Westfalen:

„Das geheime Wahlrecht wurde angenommen. In diesem Stadium der Sache machte uns (den Konservativen) das Zentrum folgenden Vorschlag: mit der geheimen Wahl sind wir unterlegen, aber es ist uns sehr darum zu tun, daß Sie mit uns gehen, da wollen wir Ihnen Konzessionen machen, wenn Sie dann später bei der Gesamtabstimmung für uns ‚stimmen‘ und da bot uns das Zentrum die indirekte Wahl für die Wahlmänner an, die die Vorlage bisher überhaupt nicht kannte.“[2]

Das Zentrum hat also die Einführung der geheimen Wahl jetzt selbst angeboten, entgegen der feierlichen Erklärung, die es kurz vorher im Plenum abgegeben hatte. In den Beratungen der Kommission haben auch die Nationalliberalen ein besonderes „liebevolles“ Herz für das Proletariat gezeigt. Diese Scharfmacher haben folgenden Vorschlag gemacht: Es soll eine gewisse Sorte von Arbeitern zum Lohne für ihre Tugenden aus der dritten Wählerklasse in die zweite verschoben werden. Sie fragen: Welche Sorte Arbeiter? Es sollen Arbeiter sein, die zwölf Jahre bei ein- und demselben Unternehmer ausgehalten haben. (Große Heiterkeit.) Dann ist das Werk der Wahlrechtskommission wieder an das Plenum gekommen und dort in dritter Lesung endgültig angenommen worden.

Nächste Seite »



[1] Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 2. Bd., Berlin 1910, Sp. 1478.

[2] Das hatte Alfred von Gescher auf der westfälischen Provinzialversammlung des Bundes der Landwirte am 19. März 1910 erklärt, wie die Kölnische Zeitung am 21. März 1910 berichtete. Zitiert nach: Volkswacht (Breslau), Nr. 71 vom 25. März 1910.