Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 935

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Mehr Sozialismus

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Der wissenschaftliche Sozialismus lehrt uns Frauen, daß wir unsere volle menschliche Befreiung einzig und allein mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln in einer sozialistischen Ordnung erlangen können. Er macht es uns damit zur Pflicht jeder Stunde, für dieses hehre Ideal zu wirken, das das geschichtlich gegebene Ziel der Arbeiterbewegung ist. Den Proletariern ihrerseits erklärt der wissenschaftliche Sozialismus, daß sie dieses ihr Ziel nicht ohne die bewußte, tätige Unterstützung der breitesten Frauenmassen zu erreichen vermögen. Tatsachen über Tatsachen bekräftigen es.

Das rasche und starke Anschwellen der beruflichen Frauenarbeit zwingt die für Lohn oder Gehalt Schaffenden, in der Erwerbsgenossin eine Gefährtin im Ringen um würdige Daseinsbedingungen zu achten und zu gewinnen. Die Zeiten des Friedens zwischen den Staaten sind von Kämpfen zwischen den Klassen erfüllt. Diese Kämpfe nehmen an Ausdehnung und Schärfe zu, ziehen in steigendem Maße die einzelnen und die Familien in Mitleidenschaft und können von den ärmeren Bevölkerungsschichten nur durchgehalten werden, wenn auch ihre Frauen Einsicht und Opferwilligkeit an die umstrittenen Ziele setzen. Die Erkenntnis, daß den Korallen auf dem Meeresgrund gleich Geschlecht nach Geschlecht weiterbauen muß, damit die Menschheit aus dunklen Tiefen zur Sonnenhöhe der Freiheit emporsteige, erhöht das Bewußtsein der Elternverantwortlichkeit. Sie stellt es uns klar vor die Seele, daß der Sozialismus nicht zur dürren, wirtschaftlichen und politischen Formel werden darf, der nur im öffentlichen Leben Heimatberechtigung zuerkannt wird. Nein, daß er eine Weltanschauung ist, die mit der unwiderstehlichen Gewalt einer Religion den ganzen Menschen packt und seine Lebensgestaltung bestimmt. Der Frauen schönes Vorrecht ist es aber, den sozialistischen Idealismus über die Schwelle des Heims zu tragen und hier die heilige Flamme zu hüten, an der sich die beste Lebenskraft des Kindes entzünden soll.

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, aber vermutlich ist Rosa Luxemburg die Autorin. Anhaltspunkte dafür liefern Briefe an Kostja Zetkin und Mathilde Jacob von Anfang Februar 1915. So schrieb sie an Kostja Zetkin z. B. vor dem 6. Februar 1915: „Den Leiter für die Mutter habe ich mir abgequetscht unter den ungünstigsten Bedingungen, nur um sie zu entlasten. Jetzt kriege ich Gänsehaut vor der ‚Umarbeitung‘, die sie daran vornehmen wird.“ Siehe GB, Bd. 5, S. 41.