Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 674

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/674

1911

Die gegenwärtige politische Lage. Rede am 28. Mai 1911 in öffentlichen Versammlungen in Eisleben und Hettstedt

[1]

Nach einem Zeitungsbericht

Anknüpfend an die Tatsache, daß die Regierung, der geschäftsführende Ausschuß der ostelbischen Fuseljunker, wegen einer „zugkräftigen“ Wahlparole zur Einseifung des deutschen Michels in ärgster Verlegenheit sei und deshalb die Neuwahlen zum Reichstag so weit als nur möglich hinausschiebe, ließ Genossin Luxemburg die Vorgänge auf der politischen Schaubühne Revue passieren. Wie ein schuldbeladener Sünder den Zeitpunkt seiner Abstrafung so weit als möglich hinauszuschieben versuche, so verlängere auch die Regierung Bethmann künstlich die Lebensdauer des eigentlich schon längst toten volksfeindlichen Reichstags, um den Zorn des ausgehungerten und entrechteten Volkes etwas zu kühlen. Das Sündenregister der durch und durch reaktionären schwarz-blauen Blockmehrheit[2] sei ein solch umfangreiches, daß man nicht wisse, welche Gemeinheit man zuerst herausgreifen solle. Während jedem guten Christen der Satz: Unser täglich Brot gib uns heute, eingepaukt werde, verteuerten gerade dieselben Herrschaften die Lebensmittel in solch unerhörter Weise, daß alle Hungersnöte früherer Zeiten ein wahres Kinderspiel seien gegen den jetzigen dauernden Zustand.

Die Ursachen früherer Teuerungen besprechend, bemerkte die Rednerin, daß wir jetzt unter einer künstlich, absichtlich hervorgerufenen Lebensmittelteuerung zu leiden hätten, die sich weit scheußlicher bemerkbar mache als Pest, Mißernten und Kriege in früheren Zeiten. Das sei die systematische Aushungerungspolitik der Arendt und Genossen. Als Bülow für das Rundschreiben des Hungertarifs die goldene Verdienstkette um den Hals gelegt wurde, forderte auch der deutsche Arbeiter die eiserne Hungerkette. Bei der Besprechung der Finanzreform[3] führte Rednerin dem aufmerksam Zuhörenden die Schuldenwirtschaft der Regierung vor Augen, legte klar, wie die Junker alljährlich dem Volke Milliarden in Form indirekter Steuern und Zölle abpressen, und erläuterte kurz den Standpunkt der Sozialdemokratie zu den Steuerfragen.

Nächste Seite »



[1] Rosa Luxemburg sprach um 15 Uhr in Eisleben und um 19.30 Uhr in Hettstedt auf imposanten Kundgebungen.

[2] Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 war der Bülow-Block zerfallen und der Schwarz-Blaue Block, auch Schnapsblock genannt, entstanden. Er bildete sich als eine Gruppierung im Deutschen Reichstag aus Vertretern der Deutschkonservativen Partei des ostelbischen Junkertums und der klerikalen Zentrumspartei.

[3] Am 10. Juli 1909 war im Deutschen Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.