Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 892

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Die Alternative

[1]

Die großen Entscheidungsschlachten haben begonnen und jeder Tag fast reißt zugleich neue Völker, neue Länder in den Mahlstrom der Kriegsschrecken hinein. Opfer fallen zu Tausenden und Abertausenden Tag für Tag. Starke Männer und blühende Jünglinge, die gestern noch Lebenshoffnungen im Herzen trugen und für den friedlichen Kulturfortschritt der Menschheit kämpfen wollten, liegen heute als verstümmelte Leichen auf den Schlachtfeldern. Wie viele rüstige Kämpfer für die Sache des Proletariats, für die Befreiung der Arbeit mögen auf diese Weise hüben wie drüben gefallen sein, wie viele werden noch fallen! Nicht als Opfer des Klassenkampfes fallen, wohl aber als Opfer einer Gesellschaftsordnung, die unter der falschen Flagge der Klassenaussöhnung den blutigen Krieg der Nationen proklamiert hat. Mögen die diplomatischen Ränkespiele den Krieg um ein geringes verzögert oder beschleunigt haben, – erzeugt und geboren hat diesen Weltkrieg niemand anderes als die Kapitalherrschaft und der von ihr entfesselte Imperialismus. Und so entsetzlich, so grauenhaft und unmenschlich der Krieg mit all seinen Begleiterscheinungen sein mag, so ist er doch nur, näher besehen, das getreue Spiegelbild der kapitalistischen Gesellschaft – wenn man ihr den Flitterkram von des Krieges Leibe reißt. So abschreckend, wie die bestehende Gesellschaft heute, im Feuerschein aussieht, so ist sie auch in ihrem innersten Wesen, alle Abnormitäten dieses verrückten Gesellschaftssystems, all seine innere Unmöglichkeit, Verlogenheit, all seine schreienden Widersprüche haben sich nun Luft gemacht in einem Sankt-Veits-Tanz des Militarismus, in einer nie dagewesenen Orgie des Weltkrieges. Zerrissen ist der falsche Schein des Kulturfriedens, der [?][2] Zerrissen der falsche Schein, womit die bürgerliche Welt den blutigen Klassenkrieg einhüllte und einlullte, der ihre Eingeweide zerreißt, der falsche Schein, mit dem sie ihre innere Barbarei, ihre Anarchie, ihre Unhaltbarkeit jahrzehntelang übertünchte. Die Gesellschaft, die aus Schweiß und Blut, aus Tränen und Qual von Millionen den jubelnden Lebensrausch einer Handvoll Nichtstuer braute, die Gesellschaft, die das Kind im Leibe der Mutter mit dem Pesthauch der Fabrik vergiftete, die jährlich im Schein des tiefsten Friedens Hunderttausende fleißiger Arbeiter mit zerschmetterten Gliedern ins Invalidenhaus schickte und Zehntausende ins dunkle

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet. Rosa Luxemburg ist aber gewiß die Autorin, denn Mathilde Jacob hat auf ihrem Exemplar handschriftlich RL vermerkt.

Nr. 1 der Sozialdemokratischen Korrespondenz (SK) war am 27. Dezember 1913 mit Rosa Luxemburgs Artikel Arbeitslos! in Berlin erschienen. Siehe GW, Bd. 3, S. 363 ff. Angekündigt worden war die SK durch Julian Marchlewski, Rosa Luxemburg und Franz Mehring am 17. Dezember 1913, nachdem es mit der Redaktion der Leipziger Volkszeitung zum Bruch gekommen war. Unter Brüskierung von Julian Marchlewski, des amtierenden Chefredakteurs der LVZ, war Anfang Oktober 1913 Rosa Luxemburgs kritischer Artikel Nach dem Jenaer Parteitag, auf dem heftige Debatten mit und über Rosa Luxemburg stattgefunden hatten, abgelehnt worden. Siehe GW, Bd. 3, S. 243 ff. und 358 f. Die SK erschien 1913/1914 dreimal wöchentlich, ab Januar bis Mai 1915 nur noch einmal wöchentlich mit der Wirtschaftlichen Rundschau von Julian Marchlewski.

Seit Beginn des Ersten Weltkrieges mit Belagerungszustand und Pressezensur signierte Rosa Luxemburg ihre Beiträge für die SK nicht mehr, um den Polizei- und Militärbehörden keine Anhaltspunkte für Anklagen zu geben.

Glücklicherweise sind viele Nummern der SK bei Mathilde Jacob erhalten geblieben. Auf ihnen befinden sich von Mathilde Jacob handschriftlich die Initialen der Autoren vermerkt. Sie hat bekanntlich die Manuskripte von Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Julian Marchlewki für die SK abgeschrieben. Ihre Sammlung der SK wurde ca. 1940/41 an die Familie von Fritz Winguth, Berlin, übergeben und ist seit den 1980er Jahren in Privatbesitz. Kopien davon befinden sich in Hoover Institution Archives, Stanford, Kalifornien/USA, in den Rosa Luxemburg and Mathilde Jacob Papers und bei Ottokar Luban, Berlin. Über die Auswertung siehe Ottokar Luban: Erstmalig identifizierte Artikel Rosa Luxemburgs in den Kriegsnummern der „Sozialdemokratischen Korrespondenz“ (August bis Dezember 1914). In: Rosa Luxemburg im internationalen Diskurs. Internationale Rosa-Luxemburg-Gesellschaft in Chicago, Tampere, Berlin und Zürich (1998–2000). Hrsg. von Narihiko Ito, Annelies Laschitza und Ottokar Luban, Berlin 2002, S. 276 ff.; ders.: Mathilde Jacob – mehr als Rosa Luxemburgs Sekretärin! In: Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, Heft 6, Leipzig 2008, S. 196 ff., bes. S. 210. – Siehe auch Hannah Lotte Lund: „Ich umarme Sie mit großer Sehnsucht“, Rosa Luxemburg und Mathilde Jacob. In: Elke-Vera Kotowski, Anna-Dorothea Ludewig, Hannah Lotte Lund: Zweisamkeiten. 12 außergewöhnliche Paare in Berlin, Berlin 2016, S. 89 ff.

[2] Eine Zeile nicht zu entziffern, da beschädigt. Ein anderes Exemplar der Nr. 93 ist bisher nicht auffindbar.