Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 893

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Grab hinabstieß, die alle paar Jahre die Massen vor überfüllten Magazinen vor Hunger sterben ließ und ihr Dasein beständig zwischen der Hölle der Überarbeit und dem Abgrund der Arbeitslosigkeit hin- und herpeitschte – diese Gesellschaft hat heute ihre historische Maske der Wohlanständigkeit abgeworfen. Sie steht heute da in ihrer leiblichen Nacktheit, als die verkörperte Bestialität, als Massenmord im System, als Anarchie in Permanenz. Das grausige Elend und der grinsende Tod, die heute die Kulturvölker anstarren, sind die Ungeheuer, mit denen die Völker unter der Herrschaft des Kapitals täglich unter einem Dach wohnten, ohne sie gewahr zu werden.

Um Wohlstand, Vaterland, Freiheit soll der Krieg gehen, so schallt es hüben wie drüben. Die Ehre, das Ansehen der Nationen erfordern, daß sich alle ins Blutmeer stürzen, daß Österreicher, Serben, Russen, Deutsche, Franzosen, Engländer, Belgier, Japaner[1] sich gegenseitig morden, Städte plündern, Dörfer verbrennen, Äcker zerstampfen, daß die Welt in Schutt und Asche, in tierischem Mordgeheul und in Todesröcheln aufgeht. So phantasieren die braven Patrioten, die sich unter der Hand, die Panik benutzend, durch Preistreiberei auf Lebensmittel schleunig die Taschen füllen.

Die Woge der Brandung wird über ihren Köpfen zusammenschlagen, ihre kleinen Lügen werden im Geheul des welthistorischen Orkans verhallen. Heute noch stumm und erdrückt von dem Unfaßbaren, werden die Völker sich morgen aufrichten und erkennen: Eine Gesellschaft, die solche Ungeheuer in ihrem Schoße barg, ist unmöglich. Eine Gesellschaftsordnung, die zum Chaos führt, muß über kurz oder lang im Chaos untergehen. Rückfall der Menschheit in die Barbarei oder Wiedergeburt durch eine planmäßig organisierte, auf der Völkerverbrüderung basierende Gesellschaftsordnung, – das ist die Alternative, vor die alle Kulturnationen durch den heutigen Weltkrieg, mag er ausgehen, wie er will, gestellt werden.

Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin),

Nr. 93 vom 27. August 1914, Kopie.

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[1] Japaner in fremder Handschrift eingefügt.