Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 595

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Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Rede am 7. April 1910 in der Mitgliederversammlung des Sozialdemokratischen Vereins Kiel

Nach einem Zeitungsbericht

Die lebhafte, den Kielern von einer Versammlung im „Kaisersaal“ her noch bekannte Vortragsweise der Genossin Luxemburg verfehlte auch gestern ihre Wirkung nicht. [1] Mit gespanntem Interesse verfolgten die Mitglieder ihre Ausführungen, in denen sie mit den herrschenden Parteien scharfe Abrechnung hielt und deren infam-niederträchtiges reaktionäres Verhalten bei der Wahlrechtsreform geißelte. Aber auch mit den übrigen, in dieser Frage mehr nach links stehenden Parteien ging sie scharf ins Gericht. Sie wies u. a. darauf hin, daß das preußische Volk sich schon im Jahre 1848 ein gleiches und direktes Wahlrecht errungen hatte.[2] Anstatt nun die ihm zustehende Aufgabe, Umwandlung des monarchischen in einen demokratischen Staat, zu erfüllen, habe der kapitalistische „Liberalismus“ durch seine Halbheiten das bestehende Wahlrecht wieder beseitigen helfen. Das Dreiklassenwahlrecht[3] sei das Resultat des feigen Verhaltens des preußischen Liberalismus.[4] Aber auch die Freisinnigen,[5] die jetzt wie die Löwen nach der Einführung eines besseren Wahlrechts brüllten, hätten, als sie im Landtag die Majorität hatten, nichts getan, um das Dreiklassenwahlrecht zu beseitigen. Seine wahre Gesinnung habe der Freisinn auch jetzt wieder gezeigt, indem er sich nicht einmal dazu habe entschließen können, gegen die Brutalitäten der Polizei gegen Wahlrechtsdemonstranten zu protestieren. Der Kampf um das Wahlrecht in Preußen werde sich daher zu einem Klassenkampf gestalten, in dem auf der einen Seite das Proletariat, auf der anderen Seite die gesamte reaktionäre Masse steht.[6] Die Reaktion aber sollte aus der Geschichte lernen, welche Macht das Proletariat besitzt, wenn es seinen Willen durchsetzen will. Wenn heute noch nach russischem Muster der Polizeisäbel saust, so sollte man nicht vergessen, daß bei jeder derartigen Machtprobe der Sache des Proletariats ungezählte Scharen neuer, bisher unaufgeklärter Kämpfer zugeführt werden. Eines Tages wird das Volk alsdann in der Lage sein, den

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[1] Im Kaisersaal Kiel-Gaarden hatte sie am 18. Januar 1907 zu den Reichstagswahlen gesprochen. Siehe GW, Bd. 7/1, S. 90 ff. An der Versammlung am 7. April 1910, die im Gewerkschaftshaus stattfand, nahmen mindestens 2500 Sozialdemokraten teil.

[2] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.

[3] Gemeint ist das preußische Dreiklassenwahlrecht. Es war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.

[4] Siehe Rosa Luxemburg: Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Referat am 6. April 1910 auf einer Volksversammlung in Bremen, GW, Bd. 7/2, S. 584 ff.

[5] Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.

[6] Das Lassallesche Schlagwort von der „einen reaktionären Masse“ ist dem Wortlaut nach in den Auseinandersetzungen des ADAV mit der Deutschen Fortschrittspartei seit dem Sommer 1865 entstanden und wohl von Johann Baptist Schweitzer geprägt worden. Siehe Engels an Marx, Oktober 1868. In: MEW, Bd. 32, S. 187. Einen dem Wortlaut des Schlagworts sehr nahekommenden Beleg enthält Lassalles Rede vor Berliner Arbeitern vom 22. November 1862, die der Social-Demokrat (Berlin) am 31. August 1865 unter der Überschrift Lassalle über die gegen ihn und die Social-Democratie erhobenen Vorwürfe veröffentlichte. Dort heißt es: „Vor mir also verschwinden die Unterschiede und Gegensätze, welche sonst die reaktionäre Partei und die Fortschrittspartei trennen. Vor mir sinken sie trotz dieser inneren Unterschiede zu Einer gemeinsamen reaktionären Partei zusammen.“ Nach MEGA, Erste Abt. Werke/ Artikel/Entwürfe, Mai 1875 bis Mai 1883, Apparat, Bd. 25, Berlin 1985, S. 548 f.