Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 739

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Der Kampf um das preußische Wahlrecht. Diskussionsbeitrag am 10. Juni 1913 in einer Versammlung in Wilmersdorf

[1]

I

Nach einem Zeitungsbericht

Die Diskussion eröffnete Rosa Luxemburg. Sie sprach von einem Widerspruch zwischen der Politik der badischen Partei[2] und der Massenstreikrede Franks. Sowohl Reichstagsabgeordneter Dr. Weill als Genosse Dr. Breitscheid und manche andere Redner, auch nichtsozialdemokratische, lehnten dieses Beginnen ab, und die Versammlung pflichtete ihnen bei.

Vorwärts (Berlin)

Nr. 144 vom 11. Juni 1913.

II

Nach einem Polizeibericht

Zwischen der Rednerin Rosa Luxemburg und dem Reichstagsabgeordneten Dr. Weill kam es zu stürmischen Szenen und Auseinandersetzungen, welche bald in Tumulte ausarteten.

Nach der Pause wird zum II. Teil der Tagesordnung übergegangen. Der Leiter erteilt der Frau Dr. Luxemburg das Wort, diese sprach:

Liebe Parteigenossen!

Ich möchte Ihnen den Eindruck schildern, den die heutige Versammlung auf mich gemacht hat. Ich wurde durch ein liberales Blatt, durch das „Berliner Tageblatt“, auf die Versammlung aufmerksam.[3] Mir wurde angedeutet, daß vom heutigen Abend eine Sensation erwartet werde.

Herr Dr. Frank hat uns den letzten Ausweg zur Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts[4] angedeutet. Wie feurig hat er uns auf die Straße gelockt, wie hat er es verstanden, uns zu erklären, daß es nur die Menge bringt. Ich bin auch für den Massenstreik, denn von diesem ist die Weiterentwicklung der Sozialdemokratie abhängig,

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[1] Überschrift der Redaktion.

[2] Am 14. Juli 1910 hatte die Mehrheit der sozialdemokratischen Landtagsfraktion in Baden dem Budget zugestimmt. Dazu entschied der Offenburger Parteitag am 20. und 21. August 1910 über folgende Resolutionen: Mit 136 gegen 36 Stimmen wurde die Resolution Sauer und Genossen angenommen: „Der Parteitag erkennt an, daß die sozialdemokratische Landtagsfraktion das von der Parteigenossenschaft Badens erhaltene Vertrauen in weitgehendstem Maße gerechtfertigt hat und spricht deshalb der Fraktion für ihre Tätigkeit im verflossenen Landtag uneingeschränkte Anerkennung aus. Insbesondere wird die Zustimmung zum Finanzgesetz gebilligt.“ Die Resolution Arnold-Mannheim und Genossen erhielt 145 Stimmen. Sie lautete: „Gegenüber der Aufforderung der preußischen und sächsischen Parteigenossen, die von den Mitgliedern der badischen Landtagsfraktion die Niederlegung ihrer Mandate verlangen, spricht der Parteitag die bestimmte Erwartung aus, daß sich keiner der in Frage kommenden Abgeordneten zu diesem Schritte drängen läßt. Der Parteitag erwartet vielmehr, daß die Genossen auf ihrem Posten ausharren und ihr Mandat, wie bisher, im Interesse der Partei ausüben.“ Mit 138 gegen 45 Stimmen wurde die Resolution Merkel-Mannheim abgelehnt, in der es u. a. hieß: „Der Parteitag erklärt, daß die Budgetzustimmung unserer Fraktion durch die Verhältnisse in Baden nicht genügend gerechtfertigt erscheint und gegen den Beschluß der Gesamtpartei verstößt. Der Parteitag bedauert die Abstimmung und verlangt, daß die Einheit der Aktion unter allen Umständen gewahrt bleibt. Der Parteitag hält die Hofgängerei einzelner Genossen für unvereinbar mit den Grundsätzen der Partei und erwartet, daß solche Entgleisungen in Zukunft vermieden werden.“ Mit 145 gegen 22 Stimmen wurde beschlossen: „Der Parteitag hält es für unangebracht, daß öffentliche Versammlungen innerparteiliche Fragen erörtern und fordert die Genossen auf, derartige Versammlungen, – die im Endeffekt nur dem Gegner dienen können – nicht einzuberufen.“ Siehe Volksfreund (Karlsruhe), Nr. 194 vom 22. August 1910.

[3] Im Victoriagarten in Wilmersdorf waren 1000 Personen, 800 Männer und 200 Frauen, anwesend.

[4] Gemeint ist das preußische Dreiklassenwahlrecht. Es war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.