1914
Kommt der Massenstreik als Verteidigungsmittel des Proletariats in einer veränderten politischen Konstellation in Betracht? Vortrag am 14. Januar 1914 in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion
[1]Nach einem Polizeibericht
Der Gedanke des politischen Streiks, des Streikes gegen die Staatsgewalt, lebt in Haupt und Herz aller sozialistischen Arbeiter. Der politische Streik wird beeinflußt sein von der Entwicklung der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Wird die Zukunft uns ein allmähliches, friedsames Hineinwachsen in die Demokratie und in den Sozialismus bringen? Ich glaube nicht, überall sehen wir das Entgegengesetzte. Zunehmende Reaktion und zunehmende Verschärfung des Klassenkampfes. Nun besitzt die Arbeiterklasse schließlich kein anderes Mittel als den Streik. Man sagt, das Mittel ist gefährlich für uns selbst. Das bedeutet aber noch nicht, daß es auch für uns verderblich ist. Ich werde die Gefahr nicht verkleinern. Je mehr Rechte die Arbeiterschaft erobert hat, je mehr sie zu verlieren haben, um so vorsichtiger werden sie im Gebrauch dieses Mittels sein. Die Gefahr liegt aber nicht ausschließlich im politischen Charakter des Streiks. Die Gefahr, mit der Staatsmacht und ihren Gewaltmitteln in Konflikt zu geraten, liegt in jedem großen oder ausgebreiteten und in das ökonomische Leben tief eingreifenden Streik, und wenn er auch nur höheren Löhnen usw. gilt. (Zustimmung.) Jeder große Streik von Bergarbeitern, Transportarbeitern usw. trägt Verwirrung in das soziale Leben und gibt der Staatsmacht Veranlassung zum Eingreifen. Aber keiner dieser Riesenstreiks hat die Organisationen oder die Staatsmacht zerschmettert. Keiner hat mit dem völligen Siege der Arbeiter geendet. Der Erfolg war meist nur ein teilweiser und ein mittelbarer. Die Riesenstreiks der Bergarbeiter[2] endeten gewöhnlich unmittelbar mit einer Niederlage, im weiteren Gefolge hatten sie aber wichtige soziale Reformen durch ihren Druck erzielt. Die ausländi-
[1] Überschrift der Redaktion. – Hugo Haase leitete die Sitzung, an der 100 Abgeordnete der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion teilnahmen. Die Aussprache „über unser wichtigstes Kampfmittel“, sagte er zu Beginn, ergebe sich aus der Zuspitzung der politischen Gegensätze, die eine andere Kampfform heraufbeschwören.
[2] Im Frühjahr 1912 hatten in mehreren europäischen Ländern Millionen Bergarbeiter im Streik für höhere Löhne und für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen gestanden. Größeren Umfang nahm der Kampf in England und Deutschland an, wo eine Million bzw. 250000 Arbeiter beteiligt waren und teilweise Polizei und Militär gegen die Streikenden eingesetzt wurden, ohne daß es gelang, die Kampffront zu brechen. In England wurde die Regierung zu einem Kompromiß gezwungen und beschloß innerhalb ungewöhnlich kurzer Zeit ein Gesetz über Mindestlöhne für Bergarbeiter; im Ruhrrevier in Deutschland endete der Streik dagegen mit einer Niederlage der Arbeiter, da die Gewerkschaftsführer gegen den Willen der Bergarbeiter den Streik abbrachen.