Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 807

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schen Massenstreiks lehren uns dasselbe. Der schwedische Massenstreik[1] hat formell mit einem Kompromiß abgeschlossen, im Grunde genommen aber eine Generalattacke des koalierten Unternehmertums auf die schwedischen Gewerkschaften abgewehrt. Die österreichischen Demonstrationsstreiks haben die Eroberung des Wahlrechts zur Folge gehabt. Die Massenstreiks der Landarbeiter haben, bei ihrer formellen teilweisen Ergebnislosigkeit, die Organisation unter den Landarbeitern in Italien gestärkt. Und über den Erfolg der Durchführung der letzten Massenstreiks in Belgien[2] brauche ich kein Wort zu verlieren. Alle Massenstreiks, ob ökonomische oder politische, Demonstration oder Kampfstreiks haben das gehalten, was wir als Bebels Testament bezeichnen können. Die Errungenschaften des politischen Streiks sind nicht einzuschätzen, je nach dem Grade des proletarischen Klassenbewußtseins wechselt ihr Wert. Ein mit Kraft und Solidarität durchgeführter politischer Streik ist immer unverloren, weil er das ist, was er bezweckt, eine Machtentfaltung des Proletariats, bei der die Kämpfenden ihre Kraft und ihr Verantwortungsgefühl stählen und die herrschenden Klassen der Stärke des Gegners bewußt werden. Hat aber bis jetzt noch jeder Massenstreik ohne Ausnahme weder mit einem völligen Sieg noch die Zerschmetterung des Proletariats gebracht, sondern umgekehrt, fast immer eine Stärkung der Organisationen und des Klassenbewußtseins und des Machtgefühls der Arbeiter, so entsteht die Frage: Wie kann in Deutschland jener große und letzte Massenstreik überhaupt zustande kommen, wenn die Masse des Proletariats nicht vorher durch eine ganze lange Periode von Massenstreiks, von ökonomischen oder politischen Massenkämpfen dazu vorbereitet, geschult, aufgerüttelt wird? Wie sollen aber plötzlich die preußischen Staatsarbeiter, die Eisenbahner, Postbeamten usw., die heute im Kadavergehorsam erstarrt sind, die Landarbeiter, die kein Koalitionsrecht haben, die breiten Schichten der Arbeiter, die noch in gegnerischen Organisationen, in christlichen,[3] Hirsch-Dunckerschen,[4] gelben Gewerkschaften[5] stecken und die Masse des

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[1] In Schweden war auf Beschluß der Sozialdemokratischen Partei vom 15. bis 17. Mai 1902 ein politischer Massenstreik durchgeführt worden, um der Forderung nach einer Wahlrechtsreform Nachdruck zu verleihen. Der Streik, an dem sich etwa 116000 Arbeiter beteiligten, wurde ohne Ergebnis abgebrochen, nachdem der Reichstag die Regierung aufgefordert hatte, bis 1904 eine neue Wahlrechtsvorlage einzubringen.

[2] Am 14. April 1913 hatte in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht begonnen, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der Belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen.

[3] Christliche Gewerkschaften wurden gegen Ende des 19. Jh. zunächst auf lokaler und regionaler Ebene als Reaktion auf die bereits bestehenden freien Gewerkschaften, die eine sozialistische Ausrichtung hatten, gegründet. 1901 schlossen sie sich zum Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands zusammen. Ihr Anspruch war, gewerkschaftliche Interessen auf sozialreformerischem Weg zu verwirklichen und zugleich dem „Wirtschaftsfrieden“ und der „Sozialpartnerschaft“ zu dienen. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde 1912 ihr interkonfessioneller Charakter mit der päpstlichen Enzyklika Singulare quadam festgeschrieben. 1913 gehörten den christlichen Gewerkschaften über 340000 Mitglieder in 4915 Ortsgruppen an.

[4] Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, (offiziell bis 1919) Verband der deutschen Gewerkvereine, wurden am 28. September 1868 gegründet. Sie standen auf liberaler Grundlage und in Konkurrenz zu den freien und christlichen Gewerkschaften. Ihre Führer hatten das Ziel, eine Sozialreform durch Interessenausgleich, Harmonie und Kooperation zwischen Arbeit und Kapital zu befördern. Die Gewerkvereine folgten dem Vorbild der englischen Trade Unions. 1913 gehörten ihnen 106618 Mitglieder in 2153 Ortsgruppen an.

[5] Die sog. gelben Gewerkschaften waren von den Unternehmen ausgehaltene Streikbrecherorganisationen.