Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 808

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deutschen Proletariats, die weder der gewerkschaftlichen Organisation noch der sozialdemokratischen Agitation zugänglich war. Diese sollten mit einem Male für einen letzten Massenstreik, für einen Kampf auf Leben und Tod reif sein? Dazu gehört doch eine vorhergehende Periode stürmischer Massenkämpfe, Demonstrationsstreiks, wirtschaftlicher Riesenkämpfe usw., damit sie nach und nach aus ihrer Starrheit, ihrem Kadavergehorsam, ihrer Zersplitterung losgelöst und der Gefolgschaft der Sozialdemokratie angegliedert werden.

Die Wahlrechts- und Demonstrationsbewegung ist eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Aufrüttelung, Aufklärung der indifferenten Massen, zur Gewinnung gegnerisch gesinnter Arbeiterkreise, wie es die regelmäßige Agitation entfernt nicht zu tun imstande ist. (Zustimmung.) Es ist höchst kurzsichtig, die Frage der preußischen Wahlreform[1] von der Frage des Reichstagswahlrechts zu trennen und zu erklären. Aus Anlaß des preußischen Wahlrechtskampfes sollen unsere schärfsten Mittel nicht angewendet werden, die wollen wir aufsparen für den Fall, daß das Koalitionsrecht oder das Reichstagswahlrecht geraubt wird. Man muß doch endlich einmal einsehen lernen, daß in der heutigen Situation der Kampf um die preußische Wahlreform im Grunde genommen nichts anderes ist, als der Kampf um das Reichstagswahlrecht. Es ist doch klar, daß eine kräftige und siegreiche Kampagne für das preußische Wahlrecht der sicherste Weg ist, einem Schlag wider das Reichstagswahlrecht im voraus zu parieren. Eine wirkliche Massenaktion großen Stils kann sich nur dann erhalten, wenn man sie nicht als trockene Exerzierübung nach dem Taktstock der Parteileitung behandelt, sondern als einen großen Klassenkampf, in dem alle bedeutenden wirtschaftlichen Konflikte ausgenutzt, alle Momente, die die Massen erregen, in den Strudel der Bewegung geleitet werden müssen und in dem man nicht einer steigenden Verschärfung der Situation und entscheidenden Kämpfen ausweicht, sondern ihnen mit einer entschlossenen konsequenten Taktik entgegengeht. Ich schließe mit den Worten Kautskys: Glücklich jeder, der berufen ist, an diesem erhabenen Kampfe und herrlichen Siege teilzunehmen![2] (Lebhafter Beifall.)[3]

LAB, A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 15910, Bl. 1-3.

Erstveröffentlichung von Auszügen durch Annelies Laschitza und Eckhard Müller. Siehe Zu Rosa Luxemburgs Ideal von einer bewußten freien Selbstbestimmung der Volksmassen. In: Rainer Holze, Siegfried Prokop (Hrsg.). Basisdemokratie und Arbeiterbewegung. Günter Benser zum 80. Geburtstag, Berlin 2012, S. 119-122.

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[1] Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Änderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommissionen des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen.

[2] Siehe Karl Kautsky: Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, Berlin 1909, S. 104.

[3] Die Diskussion zum Vortrag Rosa Luxemburgs wurde auf die nächste Sitzung am selben Tag festgelegt. Haase teilte mit, daß der Parteivorstand das Urteil der Fraktion zur Kenntnis nehmen werde, selbst aber nicht an eine Stellungnahme zu dem Vortrage denke. Ledebour rief „Seid Ihr Eunuchen?“, was sich Haase verbat.

Zur Diskussion sprachen Hoch, Joh. Hoffmann, Stücklen, Bernstein, Peus. Während des Beitrages von Hoch kam es zu heftigen Attacken unter den Parlamentariern. Der Genossin Luxemburg gehe es darum, die Sozialdemokratie zu regenerieren, „die durch den Parlamentarismus und das heutige Gewerkschaftswesen versumpfe“. Damit sei aber der Massenstreik nicht gerechtfertigt – könne leicht zum Selbstzweck werden. Bei andauernder Unruhe und lautem Widerspruch und Zustimmung erklärte er: „Auf unsere Bewegung angewandt heißt es, daß der parlamentarische Kretinismus (Andauernde Unruhe.) wie das gewerkschaftliche Zunftlertum (lebh[afte] Schlußrufe.) (Der Vorsitzende ersucht den Redner aussprechen zu lassen – Widerspruch.) am besten bekämpft werden durch möglichst innige Zusammenfassung von parlamentarischer und gewerkschaftlicher Tätigkeit zu einem einheitlichen Klassenkampf des Proletariats (Zustimmung und Lachen.) Spiegel ruft: Wie ein Chamäleon! Haase rügt diesen Zwischenruf ganz entschieden. Schumann: Er hat aber recht. (Spiegel.) Einmal redet er links, dann rechts und hüpft dann wieder durch die Mitte. (Heiterkeit und Unruhe.).“ In den Parlamentariern bliebe am ehesten das Bewußtsein lebendig, „daß die Wurzel der Kraft unserer Bewegung im organisierten Proletariat liegt und nicht in parlamentarischen Intrigen. (Lachen und Zustimmung.)“

Bernstein sprach sich für das Studium der Idee vom Massenstreik aus. „Es geht doch nicht an, eine Idee, die so tiefe Wurzeln in Belgien, Holland, Schweden und Italien geschlagen hat, einfach abzutun. (Zurufe: will ja auch niemand!)“ Eine große politische Wendung könne plötzlich kommen. Daher sei es richtig, daß alle Waffen geprüft werden. Wann wir sie anwenden, entscheide die Situation. „Aber der Feldherr muß schon in Friedenszeiten die ihm zu Gebote stehenden Waffen eingehend studieren, will er sie im Kriege zweckentsprechend anwenden.“ Siehe LAB A Pr. Br. Rep. 030, Nr. 15910, Bl. 4–6.

Bernstein schlug vor, eine 15gliedrige Kommission mit der weiteren Prüfung der Frage des Massenstreiks zu betrauen. Der Antrag wurde mit 52 gegen 37 Stimmen, bei elf Stimmenthaltungen angenommen. Die Wahl ergab folgende Zusammensetzung: Ledebour, Hoch, Bernstein, Peus, Vogtherr, Keil, Büchner, Zubeil, R. Fischer, Noske, David, Schumann, Spiegel, Haberland, Rühle.