Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 616

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es den Konservativen oder Nationalliberalen zuliebe geschieht, wodurch das Gesetz noch mehr zum Nachteil der Arbeiter verschärft wird.

Wir können der Entwicklung der Dinge im Parlament seelenruhig entgegensehen. Für uns kommt jetzt das parlamentarische Kampffeld nicht mehr in Betracht. Jetzt wird die Aktion der breiten Massen den Ausschlag geben. Der Verlauf des Wahlrechtskampfes hat uns deutlich gezeigt, daß, wenn der Kampf im Parlament zu Ende ist, für uns erst der Kampf beginnt. Jetzt ist es unsere Pflicht, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.

Noch ein Ereignis ist von großer Bedeutung: Die gewaltigen Wahlrechtskundgebungen am 10. April mit – Genehmigung der Polizei.[1] Damit vergleichen wir den Spaziergang nach dem Tiergarten in Berlin am 6. März und das wüste Vorgehen der Polizei bei dieser Gelegenheit![2] Diesmal hat man unsere Kundgebungen genehmigt, weil man endlich eingesehen hat, daß uns das Demonstrieren nicht verboten werden kann (Sehr richtig!), daß wir trotz aller Verbote und Säbelattacken unseren Willen öffentlich zum Ausdruck bringen. Daran können wir erkennen, was unsere Macht bedeutet.

Die Vorschläge, die die Wahlrechtskommission gemacht hat, sind genauso reaktionär wie die Regierungsvorlage. Die Vorschläge der Kommission sind jedoch weit perfider, verlogener und scheinheiliger, weil das Zentrum Pate gestanden hat. Da diese Partei im politischen Leben noch eine große Rolle spielt, ist es unsere Pflicht, unsere Taschen mit Material zu füllen, um deren Verlogenheit möglichst weiten Kreisen zum Bewußtsein zu bringen. Das Zentrum hat trotz seiner Erklärungen für die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht abgelehnt! Es versucht sich damit auszureden, daß es behauptet, wenn es den Konservativen kein Entgegenkommen gezeigt hätte wäre überhaupt nichts zustande gekommen. Aber selbst die Konservativen haben über diesen Kuhhandel verraten, daß das Zentrum den Konservativen das indirekte Wahlrecht angeboten hat. Es wäre unverantwortliche Nachlässigkeit, wollten wir diesen infamen Verrat nicht immer und immer wieder brandmarken. Die Nationalliberalen haben den Arbeitern einen besonders großen Gefallen zu erweisen beabsichtigt. Sie verlangten ein Privileg für Arbeiter, die zwölf Jahre bei einem Unternehmer beschäftigt sind – ein Privileg für Streikbrecher! Den Freikonservativen war das Gesetz ebenfalls nicht reaktionär genug.

Durch die Zweidrittelmajorität der Konservativen und des Zentrums haben wir also das Wahlgesetz bekommen. Für uns entsteht nun die Frage: Wie ist es möglich, daß heute in Preußen in fast allen wichtigen Fragen zwei Parteien ausschlaggebend sind, deren Anschauungen ins Mittelalter hinein gehören? Die Beantwortung dieser Frage ist gleichzeitig die Geschichte des deutschen Liberalismus.

Die deutsche Freiheit war 1848 nur ein Blatt Papier. Den Arbeitern fehlte Klassenbewußtsein und infolgedessen eine starke Organisation. Die Liberalen hätten 1848

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[1] Am 10. April 1910 hatten in ganz Preußen und in anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht stattgefunden, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wieder erkämpft hatten.

[2] Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower Park aufgerufen, die durch das Eingreifen der Polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Aktion durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150000 Demonstranten.