Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 617

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das Volk bewaffnen, den Machthabern die Armee und öffentlichen Ämter entreißen müssen. Sie hätten weiter den König verjagen und die Republik verkünden müssen.[1] (Beifall.) Wäre das damals geschehen, dann hätten wir nicht zu erleben brauchen, nach 22 Jahren die deutsche Einheit aus einem Blutmeer erstehen zu sehen; dann hätten wir nicht den Militarismus sowie den Imperialismus, dann hätten wir nicht das unerhörte Wettrüsten, das die Völker zum Weißbluten bringt, nicht die Kriegshetze, das persönliche Regiment und auch nicht jene zwei heute herrschenden Parteien. (Sehr richtig!) Aber materielle Interessen bestimmen das Handeln der Parteien. Und da die Bourgeoisie ein großes Interesse an der Ausbeutung der Arbeiter hat, fiel es ihr natürlich damals nicht ein, die Arbeiter zu bewaffnen. Schon damals hat sie die Arbeiter mehr gehaßt, als die Reaktion, weshalb sie die Revolution erstickte. Jedes weitere Jahr führte die Liberalen dann tiefer in den Sumpf. Wenn sich die Freisinnigen im Wahlrechtskampf heute neben uns stellen, so darf nicht vergessen werden, daß sie die Herrschaft dieser beiden reaktionären Parteien durch die frühere Blockpolitik ganz erheblich befestigt haben.

In Wirklichkeit gibt es nur zwei große Lager. Auf der einen Seite die Sozialdemokratie ganz allein, auf der anderen Seite die gesamten bürgerlichen Parteien. Lassalles Wort von der einen reaktionären Masse[2] kommt hier in Anwendung. Wir haben nur auf uns selbst zu rechnen. (Sehr richtig!) Das ist die erste Lehre, die wir aus dem Wahlrechtskampf zu ziehen haben. Aber deshalb brauchen wir nicht pessimistisch zu sein. Im Gegenteil. Je klarer wir erkennen, daß es sich bei dem Wahlrechtskampf um Klassenkampf handelt, und die Größe der uns bevorstehenden Aufgaben richtig erfassen, um so kräftiger werden wir schlagen können. Wer sind wir denn? Wir sind die große Zahl derer, deren Hände Arbeit die Grundlage des Staates ausmacht. (Sehr richtig!) Dieser Tatsache müssen wir uns scharf bewußt werden. Es kann ein Moment kommen, wo wir die Arme kreuzen und zu den Besitzenden sagen müssen: Nun produziert ihr selbst! Dann wird’s sich zeigen, daß der Staat nicht 24 Stunden ohne uns fertig werden kann.

Werfen wir einen Blick auf Belgien. Bis Ende 1891 galt dieser Staat als das Paradies der Kapitalisten. Es herrschten scheußliche Zustände unter dem alten Wahlrecht, das das Volk in Rechtlosigkeit erhielt. Da wurde 1891 der erste Massenstreik proklamiert! Allerdings wurde auch Blut vergossen. Aber die 125000 Arbeiter konnte man nicht töten. Das hieße die Bienen töten, die den süßen Honig liefern. Die Folge des Massenstreiks war, daß der Staat nachgeben und das allgemeine Wahlrecht bewilligen mußte. Als die Arbeiter die Arbeit wieder aufgenommen hatten, begann im Parlament ein Kuhhandel, ähnlich wie der in Preußen. Man wollte den Arbeitern die erkämpften Rechte vorenthalten. Da riß den Arbeitern 1893 der Geduldsfaden, und zum zweiten Male wurde der Massenstreik proklamiert. In zwei Tagen wurde das erreicht, was die

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[1] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.

[2] Das Lassallesche Schlagwort von der „einen reaktionären Masse“ ist dem Wortlaut nach in den Auseinandersetzungen des ADAV mit der Deutschen Fortschrittspartei seit dem Sommer 1865 entstanden und wohl von Johann Baptist Schweitzer geprägt worden. Siehe Engels an Marx, Oktober 1868. In: MEW, Bd. 32, S. 187. Einen dem Wortlaut des Schlagworts sehr nahekommenden Beleg enthält Lassalles Rede vor Berliner Arbeitern vom 22. November 1862, die der Social-Demokrat (Berlin) am 31. August 1865 unter der Überschrift Lassalle über die gegen ihn und die Social-Democratie erhobenen Vorwürfe veröffentlichte. Dort heißt es: „Vor mir also verschwinden die Unterschiede und Gegensätze, welche sonst die reaktionäre Partei und die Fortschrittspartei trennen. Vor mir sinken sie trotz dieser inneren Unterschiede zu Einer gemeinsamen reaktionären Partei zusammen.“ Nach MEGA, Erste Abt. Werke/ Artikel/Entwürfe, Mai 1875 bis Mai 1883, Apparat, Bd. 25, Berlin 1985, S. 548 f.