Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 618

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Reaktionäre in zwei Jahren nicht fertig bekamen. Dieser zweite Streik brachte den Arbeitern ein Wahlrecht, durch das sie gleich darauf 28 Mandate eroberten.[1]

Und wie war es in Rußland? Bis zum 22. Januar 1905 herrschte dort ein rätselhafter Zustand. An diesem Tage wurde der erste Massenstreik proklamiert, dem ein noch viel gewaltigerer, ein sich fast über ganz Rußland erstreckender Massenstreik im Herbst folgte.[2] Dieser hat „Väterchen“ belehrt, daß sich’s auf Bajonetten schlecht sitzen läßt. Er mußte ein Manifest erlassen.[3] Man sagt: Was haben diese Kämpfe bisher genützt? Herrscht in Rußland die Knute heute nicht ebenso als früher? Darauf muß erwidert werden: Nein! Die Knute herrscht nicht mehr so. Das Klassenbewußtsein ist vielmehr aufgepeitscht und nun wird so lange gekämpft, bis der Absolutismus zerschmettert am Boden liegt. Daß heute noch die Knute geschwungen wird und Galgenarbeit verrichtet wird, ist ein Beweis dafür, daß sich der russische Absolutismus nur durch heftigen Kampf mit dem Volke erhalten kann. Die Lehren dieser großen Bewegungen sollten sich die Machthaber in Preußen merken.

Es wird die Frage aufgeworfen: Können wir angesichts dessen, daß uns noch viele Arbeiter fernstehen, überhaupt an einen Massenstreik in Deutschland denken? Wir wären schlechte Rechenmeister, wollten wir uns nicht sagen, daß dieser Zustand nicht von ewiger Dauer sein kann. Wenn es etwas gibt, die heute uns noch Fernstehenden aus dem Schlafe zu rütteln, dann ist es die kühne Aktion der Sozialdemokratie. So war es beim Bergarbeiterstreik im Jahre 1905[4] und so ist es auch jetzt bei der großen Bauarbeiterbewegung.[5] Kommt es zum Massenstreik, dann wird der Zentrumsturm in allen Fugen krachen. (Sehr richtig!) Es wird der Einwand erhoben, die Gewerkschaften werden bei einem Massenstreik zusammenbrechen. Es soll nicht bestritten werden, daß die Gewerkschaften schwer zu leiden haben werden. Aber wozu haben wir denn unsere Organisationen? Sie sind unser Panzer, unsere Kanonen, die wir zum Kampf brauchen. Was wird man von einem Feldherrn sagen, der einem Kampf aus dem Wege geht, weil ev. die Kanonen beschädigt werden könnten? Und unsere Organisationen gleichen nicht einmal den plumpen Werkzeugen des Militärstaates. Sie gehen vielmehr erst grade aus dem Kampfe hervor. Wir brauchen nur an die Wirkung des Sozialistengesetzes[6] auf die Gewerkschaften zu denken. Unser Lebenselement ist Kampf und Sturm. (Beifall.)

Es ist möglich, daß im weiteren Verlaufe des Kampfes schärfere Mittel gegen uns angewendet werden. Das darf uns nicht abschrecken. Niemand hat uns besser ge-

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[1] Am 12. April 1893 hatte die belgische Kammer den Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts und alle anderen Anträge für eine Wahlreform abgelehnt. Der Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei rief daraufhin am 13. April zum sofortigen Ausstand auf. Diesem Aufruf folgten etwa 250000 Arbeiter. Durch diesen Massenstreik vom 13. bis 18. April 1893, bei dem es zu Straßendemonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, sah sich die Kammer gezwungen, den Forderungen zu entsprechen. Sie beschloß am 18. April das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum, wonach eine Person unter bestimmten Voraussetzungen (Steueraufkommen, Schulbildung) mehrere Stimmen abgeben konnte. Am 14. April 1902 begann in Belgien erneut ein Massenstreik, an dem sich über 300000 Arbeiter beteiligten. Er wurde vom Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei jedoch am 20. April 1902 abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

[2] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06.

[3] Die zaristische Regierung hatte sich angesichts des politischen Generalstreiks im Oktober 1905 gezwungen gesehen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. Siehe Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus’ des Letzten. In: GW, Bd. 6, S. 600 ff.

[4] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet für den Achtstundentag, für höhere Löhne und Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Sie waren durch Solidaritätsstreiks der deutschen und internationalen Arbeiterklasse unterstützt worden. An diesem bedeutenden Massenstreik hatten sich gemeinsam die freigewerkschaftlichen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt.

[5] Gegen die Massenaussperrung im Baugewerbe begannen am 15. April 1910 160000 Bauarbeiter den Kampf, um ihre Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, nach örtlichen Tarifverträgen und Agitationsfreiheit durchzusetzen. Der Streik dauerte in einigen Großstädten bis Anfang Juli.

[6] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag am 19. Oktober 1878 auf Druck von Otto von Bismarck angenommene Gesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündung in Kraft. Es stellte die deutsche Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes, unterwarf ihre Mitglieder Verfolgungen und Schikanen und erschwerte die Arbeit der Partei außerordentlich. Unter Druck der Massen und angesichts der Differenzen innerhalb der herrschenden Klassen, die sich im Reichstagswahlergebnis am 20. Februar 1890 widerspiegelten, lehnte der Deutsche Reichstag am 25. Januar 1890 mit 169 gegen 98 Stimmen die Verlängerung des Sozialistengesetzes in dritter Lesung ab. Siehe dazu u. a. Nach 20 Jahren. In: GW, Bd. 6, S. 232 ff.