Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 624

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sieht aber die Arbeiterschaft etwas anders aus als 1848 und an sie tritt jetzt die Aufgabe heran, das Werk der Freiheit vorwärtszubringen. Durch unsere Demonstrationen haben wir die Vorlage erzwungen und auf diesem Wege müssen wir daher weiter schreiten. Von einer Seite werde auf die kommenden Reichstagswahlen hingewiesen, die eine gründliche Abrechnung mit dem herrschenden Regime bringen sollen. Diese Ansicht sei einerseits vollständig richtig, aber nicht im Warten auf die Reichstagswahlen beständen die Vorbereitungen auf den Sieg, sondern darin, den Kampf um das preußische Wahlrecht weiterzuführen. Die Reaktionäre seien mit ihrem Latein bereits zu Ende, wir aber, wir könnten noch sehr viel weiter. Rednerin kam nun auf unsere Demonstrationen zu sprechen. Wir hätten uns das Recht auf die Straße erobert und gezeigt, daß man uns von dem einmal betretenen Wege nicht abbringen könne, und wenn man noch so wütend mit dem Polizeisäbel herumfuchtele. Mit Demonstrationen allein kämen wir aber kaum zum Ende, darüber dürften wir uns nicht täuschen. Wir, die wir solange wie möglich als friedliche Masse auf der Straße erscheinen, um den Herrschenden unsere Forderungen in die Ohren zu rufen, würden aber noch ganz andere Register aufziehen, wir hätten noch ein ganz anderes Schwert in der Scheide, das wir ziehen würden, wenn es an der Zeit sei. Das sei zwar kein Instrument aus blinkendem Stahl, sondern sehr einfach die Tatsache, daß wir eines Tages die Arme kreuzen und die Herren sich selbst überlassen. Wenn die Machthaber imstande wären, aus der Geschichte zu lernen, dann brauchten sie nur den Blick nach anderen Staaten zu richten. Rednerin schildert nun in großen Zügen den Wahlrechtskampf, der sich in Belgien abgespielt hat.[1] Binnen wenigen Tagen sei 1891 unter dem Druck des Massenstreiks die erste Wahlrechtsvorlage und 1893 das allgemeine, wenn auch ungleiche Wahlrecht erzwungen worden. Weiter verbreitet sie sich über die Verhältnisse in Rußland, wo noch heute unter der Decke der Aufruhr in Permanenz besteht, wo der Zar sich aber 1905 durch den Generalstreik in ganz Rußland veranlaßt sah, das Verfassungsmanifest[2] zu geben, dessen letzter trauriger Rest heute, das Wahlrecht zur Duma, nach zweimaligem Staatsstreich noch viel fortschrittlicher sei, als das, was man uns jetzt in Preußen als Vorlage angeboten hatte. Auch in Preußen könne die Zeit kommen, wo wir belgisch oder russisch reden. Auch in Österreich haben die Arbeiter unter dem unmittelbaren Eindruck des russischen Generalstreiks und dadurch, daß sie entschlossen waren, die Massenaktion mit allen Mitteln vorwärtszubringen, sich das allgemeine Wahlrecht erobert, wobei sie allerdings in dem dynastischen Interesse einen Bundesgenossen hatten. Wir in Preußen seien freilich in etwas anderer Lage, wir finden keine Bundesgenossen, wenigstens keine, die der Rede wert wären, auf die man sich im entscheidenden Moment verlassen könnte. Wir würden sie sicher nicht zurückstoßen. Wo sind sie aber, die aufrechten Anhänger eines glei-

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[1] Am 12. April 1893 hatte die belgische Kammer den Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts und alle anderen Anträge für eine Wahlreform abgelehnt. Der Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei rief daraufhin am 13. April zum sofortigen Ausstand auf. Diesem Aufruf folgten etwa 250000 Arbeiter. Durch diesen Massenstreik vom 13. bis 18. April 1893, bei dem es zu Straßendemonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, sah sich die Kammer gezwungen, den Forderungen zu entsprechen. Sie beschloß am 18. April das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum, wonach eine Person unter bestimmten Voraussetzungen (Steueraufkommen, Schulbildung) mehrere Stimmen abgeben konnte. Am 14. April 1902 begann in Belgien erneut ein Massenstreik, an dem sich über 300000 Arbeiter beteiligten. Er wurde vom Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei jedoch am 20. April 1902 abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

[2] Die zaristische Regierung hatte sich angesichts des politischen Generalstreiks im Oktober 1905 gezwungen gesehen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. Siehe Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus’ des Letzten. In: GW, Bd. 6, S. 600 ff.