Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 625

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chen Wahlrechts? Sind es vielleicht die Freisinnigen, die in der Blockära[1] ihren freisinnigen Nacken als Fußschemel für die Junker darreichten? Alle Hochachtung vor den Demokraten, die das Wahlrecht für beide Geschlechter zu vertreten wenigstens den Mut haben. Es seien aber nur tapfere Offiziere, Soldaten seien keine zu sehen. Nach allem, was wir erlebt, haben wir es nicht mit den ersten Blüten eines heranbrechenden Frühlings in der demokratischen Entwicklung zu tun, sondern wahrscheinlich mit den letzten Nachzüglern eines Altweibersommers.

Die Sozialdemokratie sei also auf sich allein angewiesen. Diese Erkenntnis brauche uns aber nicht verzweifeln zu lassen, sondern gebe uns die Möglichkeit, eine große Aktion zu entfesseln, wie wir das niemals im Bunde mit bürgerlichen Liberalen würden tun können. Uns kann man auch nicht mit schärferen Mitteln als Polizeisäbeln zurückhalten. Kanonen waren ja schon am 6. März in Berlin scharf geladen,[2] und bei der Kopflosigkeit unserer Gegner, bei dem Zickzackkurs da oben könne man auf alles gefaßt sein. In dem Moment aber, wo jene Kanonen losknallen würden, gäbe das in ganz Deutschland ein solches Echo, daß den Herrschenden Hören und Sehen vergehen würde. – Der heutige Wahlrechtskampf sei ja nur eine Etappe zum allgemeinen Endziel, denn es ist nicht unsere eigentliche Klassenaufgabe, den heutigen Staat wohnlich einzurichten, sondern ihn aus den Angeln zu heben und den Sozialismus zu verwirklichen. Aber als Waffe brauchen wir das allgemeine Wahlrecht, um das Proletariat zu heben, aufzuklären. Und unsere Kraft und unsere Macht wird wachsen in der Aktion selbst. Da taucht nun die Frage auf, ob wir in Deutschland an den Massenstreik, an die Anwendung dieses Mittels denken können, da wir noch große Massen von Proletariern haben, die den Wahlrechtskampf nicht mitmachen, noch im Lager der Gegner stehen und sich insbesondere vom Zentrum am Gängelband führen lassen. Rednerin erinnert jedoch an den Bergarbeiterstreik im dunklen Ruhrrevier,[3] wo die christlichen Arbeiter Arm in Arm mit uns standen. Wir haben ja auch jetzt ein Stück Massenstreik: die Aussperrung im Baugewerbe,[4] und auch hier werden die christlichen Arbeiter auf unsere Seite gezwungen. Weiter weist Rednerin hin auf die in diesem Wahlrechtskampf bereits geführten Demonstrationsstreiks in Frankfurt a. M.[5] und besonders in Kiel,[6] wo sich auch die Hirsch-Dunckerschen Arbeiter auf der Germania-Werft uns anschlossen. Wenn wir zur großen Aktion auf-

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[1] Nach den Reichstagswahlen von 1907 schlossen sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülowblock („Hottentottenblock“) zusammen. Gestützt auf diesen Block war es Reichskanzler Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen. Dieser Block zerbrach am 10. Juli 1909, als der Reichstag die Erbschaftssteuer ablehnte.

[2] Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower Park aufgerufen, die durch das Eingreifen der Polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Aktion durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150000 Demonstranten. Siehe auch Rosa Luxemburg: Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Rede am 14. April 1910 in einer sozialdemokratischen Mitgliederversammlung in Essen-Maas. In: GW, Bd. 7/2, S. 608 ff.

[3] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet für den Achtstundentag, für höhere Löhne und Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Sie waren durch Solidaritätsstreiks der deutschen und internationalen Arbeiterklasse unterstützt worden. An diesem bedeutenden Massenstreik hatten sich gemeinsam die freigewerkschaftlichen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt.

[4] Gegen die Massenaussperrung im Baugewerbe begannen am 15. April 1910 160000 Bauarbeiter den Kampf, um ihre Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, nach örtlichen Tarifverträgen und Agitationsfreiheit durchzusetzen. Der Streik dauerte in einigen Großstädten bis Anfang Juli.

[5] Über Frankfurt/M. berichtete der Vorwärts, Nr. 90 vom 19. April 1910. Nach dem Referat Rosa Luxemburgs im Zirkus Schumann am 17. April 1910, siehe GW, Bd. 2, S. 305 ff., demonstrierten die 7000 bis 8000 Teilnehmer in losen Gruppen vom Bahnhof die Kaiserstraße entlang nach der Zeil mit Hochrufen und Gesang der Marseillaise. Das Aufgebot von Polizeimannschaften eilte bis zum Gewerkschaftshaus da und dorthin, sperrte ab und auf, bis es sich ins Polizeipräsidium zurückzog.

[6] Gemeint ist der politische Halbtagsstreik von rd. 10000 Arbeitern in Kiel für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen. 80 Prozent der Arbeiter der Kruppschen Werft und 75 Prozent der Arbeiter der Howaldt-Werft waren am 15. März 1910 in den Streik getreten, fanden sich zu Versammlungen im Gewerkschaftshaus und im Englischen Garten zusammen und demonstrierten anschließend gemeinsam mit den Arbeitern der Kaiserlichen Werft, die sich nach Schichtschluß einreihten.