Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 626

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treten, werden wir ganze Massen von Arbeitern dem Zentrum entreißen. – Nun sagt man auch, wir hätten viel zu riskieren und zu verlieren, nämlich unsere Gewerkschaften, unsere starken Organisationen. Aber vor allem müsse man doch bedenken, daß uns die Organisationen doch nie Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Kampfe waren; sie sind ja unsere Rüstung, unsere Kanonen. Und wie würde uns eine Armee vorkommen, die erklärt, nicht in den Krieg ziehen zu können, aus Angst, daß [er] die Kanonen beschädigen könnte. Andererseits sind unsere Organisationen doch nicht den plumpen Werkzeugen des Militarismus ähnlich, die wirklich zerschlagen werden können. Die Organisationen gehen im Kampfe nicht zugrunde, sondern gehen aus ihm gestärkt hervor. Unsere stärksten Gewerkschaften sind aus den stürmischsten Kämpfen hervorgegangen, immer erst aus einem Streik wurde eine Organisation geboren. Wie traurig sah es am Anfang des Sozialistengesetzes[1] aus, aber nach dem Fall dieses Gesetzes standen unsere Organisationen in verzehnfachter Kraft da. Und so wird es immer sein. Unsere Organisationen sind ja für den Kampf geschaffen und im Kampfe werden sie ihre Macht entwickeln. Man stelle überhaupt viele Fragen, so auch die, wer die Massen bei einem langen Streik unterstützen wird. Leider hat man in unseren Reihen in der letzten Zeit viel zu viel von der Frage der Unterstützungen zu hören bekommen, sie auch schon bei der Maifeier in den Vordergrund geschoben. Das seien unnütze Sorgen, wie ein Blick auf die Kämpfe in Rußland und Belgien lehre. Ohne den größten Idealismus würden wir nie eine Schlacht schlagen können, und auch bei uns wird er auf der Höhe sein wie überall, wo es große Aufgaben zu lösen gab. Die Frage der Unterstützung wird uns wenig kümmern, am meisten aber die, wie wir dem Feind am besten die Faust aufs Auge und das Knie auf die Brust drücken werden. Wenn die Zeit kommt, wird das deutsche Proletariat sicher auf der Höhe seiner Aufgabe sein. Jetzt gelte es, mit der Demonstrationsbewegung machtvoll weiter einzusetzen. Die Wahlrechtsvorlage ist tot, der Kampf der Arbeitermasse muß frisch wieder aufleben.

Die zweistündigen Ausführungen der Referentin wurden mit lebhaftestem Beifall entgegengenommen.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 132 vom 9. Juni 1910.

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[1] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag am 19. Oktober 1878 auf Druck von Otto von Bismarck angenommene Gesetz „gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündung in Kraft. Es stellte die deutsche Sozialdemokratie außerhalb des Gesetzes, unterwarf ihre Mitglieder Verfolgungen und Schikanen und erschwerte die Arbeit der Partei außerordentlich. Unter Druck der Massen und angesichts der Differenzen innerhalb der herrschenden Klassen, die sich im Reichstagswahlergebnis am 20. Februar 1890 widerspiegelten, lehnte der Deutsche Reichstag am 25. Januar 1890 mit 169 gegen 98 Stimmen die Verlängerung des Sozialistengesetzes in dritter Lesung ab. Siehe dazu u. a. Nach 20 Jahren. In: GW, Bd. 6, S. 232 ff.