Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 931

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Anschluß an die Petersburger Vorgänge sich über das ganze Reich ausbreitete, erbrachte den Beweis, daß der russische Liberalismus, der sich schon damals auf der Vorderszene des politischen Lebens spreizte und seine lendenlahmen „Kundgebungen“ als politische Taten ausgab, den wichtigsten Faktor der politischen Entwicklung Rußlands übersehen hatte – die revolutionäre Arbeiterklasse. Dieser Faktor, den nur die Sozialdemokratie richtig eingeschätzt hatte, trat nun in den Vordergrund des russischen Lebens. Immer stärker anschwellend, führte die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse, die in der Gärung der Bauernschaft und in der Unzufriedenheit des Bürgertums wichtige Bundesgenossen fand, zu dem Generalstreik im Oktober 1905, der die Regierung am 30. Oktober zur Kapitulation vor dem Willen des Volkes zwang. Die erste Bresche in der Mauer des Absolutismus war geschlagen.[1] Und selbst die Niederlage der revolutionären Armee im Kampfe gegen die wiedervereinigte Macht des Kapitals und der feudalen Bürokratie im Dezember 1905, selbst die in den Jahren 1906/07 einsetzende Gegenrevolution, die die Hoffnungen der gemäßigten Opposition auf eine „friedliche Verständigung“ mit der Regierung zunichte machte und dem Volke eine reaktionäre Verfassung aufzwang, vermochte nicht alle Früchte der revolutionären Bewegung von 1905 zu beseitigen.[2] Zwar lag die Arbeiterklasse, die Hauptträgerin der Revolution, aus zahlreichen Wunden blutend am Boden; zwar wurden Tausende und Abertausende der heldenhaften Kämpfer dem Henker überantwortet oder in die Zuchthäuser gesperrt; zwar wetteiferte die Bürokratie mit den zu größerem politischen Einfluß gelangten Schichten des Junkertums und der Plutokratie in der Knechtung der Volksmassen, in der Stärkung der zentralen Regierungsgewalt, in der Rückwärtsrevidierung der seinerzeit gemachten Konzessionen – ein völliges Zurück zu den vorrevolutionären Zuständen war aber unmöglich. War auch der politische Fortschritt ungeheuer erschwert durch die Fesseln des in seinem Kern nur wenig berührten Polizeistaates, war auch die Herrschaft der unter dem Banner des Nationalismus arbeitenden junkerlich-plutokratischen Cliquen der Ausdruck der unvollendet gebliebenen Revolution von 1905, so bot doch selbst der steinige Boden des pseudokonstitutionellen Rußlands ganz andere Möglichkeiten für die politische Differenzierung und Entwicklung des Landes, als das unter dem bleiernen Druck des Absolutismus ste-

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[1] Die zaristische Regierung hatte sich angesichts des politischen Generalstreiks im Oktober 1905 gezwungen gesehen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. Siehe Das neue Verfassungsmanifest Nikolaus’ des Letzten. In: GW, Bd. 6, S. 600 ff.

[2] Siehe auch Rosa Luxemburg: Das Regime Stolypin. In: GW, Bd. 7/2, S. 691 ff.; dies.: Aus dem russischen Parteileben. In: ebenda, S. 730 ff.