Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 719

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Polizeisäbeln ins kapitalistische Joch zurückzwingen wollte![1] Denken wir an die Hungerrevolte in Wien,[2] an Mansfeld[3] und andere Vorgänge, und wir wissen, wozu die Herrschenden das Militär brauchen. Die aufstrebende Arbeiterklasse ist der Feind, der durch Polizei und Militär niedergehalten werden soll!

Wie man mit dem Volke umspringt, das hat der Marokkohandel und sein Verlauf wieder mit aller Deutlichkeit gezeigt.[4] Ist es nicht ein Schauspiel zum Lachen und Weinen zugleich, daß die Hampelmänner der internationalen Politik (Allg[emeine] Heiterkeit.) mit den Geschicken von Millionen ernster Arbeiter geradezu Fangball spielen können, das Schicksal dieser Millionen unter Ausschluß der Öffentlichkeit im stillen Kämmerlein entschieden wird?! Wenn wir auch nur eine Spur von Volksvertretung hätten, dann wäre ein solcher Skandal unmöglich, dann müßte diese Methode vor dem ganzen Volke in der schärfsten Weise gebrandmarkt und ihre Vertreter mit einem gehörigen Denkzettel zum Teufel gejagt werden. Keine der bürgerlichen Parteien im Reichstage hat an diesem schmachvollen System gerüttelt, und einzig die Sozialdemokratie hat diese unhaltbaren Zustände in ihrer ganzen Schmach gekennzeichnet!

Und warum dieses frevelhafte, wahnsinnige Spiel der Diplomaten mit den Geschicken der Völker, das Drohen mit dem Kriege!? Nur um schmutziger kapitalistischer Interessen willen sollte Blut und Leben der Arbeiterklasse aufs Spiel gesetzt werden! Und die gleiche Kapitalistenclique, die um ihrer materiellen Klasseninteressen willen die Arbeiter zweier Länder sofort in den Krieg hetzen möchte, ist es, die im eigenen Lande die Vernichtung der Organisationen dieser Arbeiter plant und sie zu willenlosen Sklaven herabzudrücken sucht. Alle diese Erscheinungen haben, wie wir sehen, ein und dieselbe Quelle, und als Folge und Wirkung den Machtkampf zwischen Kapital und Arbeit. Auf diesen Punkt hat sich die kapitalistische Entwicklung seit Gründung des Reichs immer mehr zugespitzt. Ihre Zeichen sind: Wachsen des Militarismus (Imperialismus), agrarische Schutzzollpolitik, Auspowerung, Entrechtung und Unterdrückung der Volksmassen, immer schärfere Zuspitzung der Klassengegensätze.

Die Sozialdemokratie hat am allerwenigsten Ursache, diese Entwicklung zu beklagen. Wissen wir doch, daß wir das gelobte Land des Sozialismus nur unter schweren und opferreichen Kämpfen erringen können. Diese Kämpfe werden immer heftiger, schärfer und gewaltiger werden, bis es endlich zur letzten großen und entscheidenden Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit kommen wird. Für diesen Entscheidungskampf müssen wir rüsten.

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[1] Gemeint sind die Moabiter Unruhen vom 19. September bis 8. Oktober 1910, in denen sich der Streik von 140 Kohlenarbeitern um Lohnerhöhungen zu einem Protest von etwa 20000 bis 30000 gegen Streikbrecher und Polizeieinsatz sowie zu Straßenkämpfen mit Hunderten von Verletzten und zwei Toten ausweitete. In zwei Prozessen von November 1911 bis Januar 1912 gegen 18 Arbeiter wurden 14 zu insgesamt 67 ½ Monaten Gefängnis verurteilt.

[2] Zum Beispiel war es am 17. September 1911 in Wien bei einer Demonstration gegen die Teuerung, an der sich etwas 120000 Personen beteiligten, zu einem Zusammenstoß mit der Polizei und dem eingesetzten Militär gekommen. Dabei wurde eine Person getötet, 83 wurden verletzt.

[3] Vom 4. Oktober bis 13. November 1909 hatten etwa 10000 Mansfelder Bergarbeiter gegen die Maßregelung gewerkschaftlicher Vertrauensleute durch die Zechenherren gestreikt. Um die Streikfront zu brechen und die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu zwingen, forderten die Unternehmer Militär an. In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1909 waren daraufhin einige Kompanien Infanterie in das Streikgebiet einmarschiert. Am 13. November mußte der Streik ergebnislos abgebrochen werden.

[4] Während der Marokkokrise hatten der französische Botschafter in Deutschland, Jules Cambon, und der Staatssekretär des Äußeren, Alfred von Kiderlen-Wächter, hinter verschlossenen Türen über Kompensationen im Kolonialbesitz verhandelt. Diese Verhandlungen führten am 4. November 1911 zu den Marokko- und Kongoabkommen zwischen Deutschland und Frankreich. Im Marokkoabkommen stimmte Deutschland der Beherrschung Marokkos durch Frankreich zu, während Frankreich das Prinzip der „offenen Tür“ für Marokko garantierte. Im Kongoabkommen wurde ein Gebietsaustausch in Äquatorialafrika vereinbart, durch den Deutschland gegen Territorien im Tschadgebiet einen zwar größeren, wirtschaftlich aber wertlosen Teil von Französisch-Kongo erhielt.