Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 718

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Onkel- und Tantenbesuche, die Wilhelm II. im Interesse des Friedens unternommen hat und noch unternimmt. (Allg[emeine] Heiterkeit.)

Betrachten wir jedoch die Kehrseite der Medaille, sehen wir uns die Dinge bei Lichte an, so drängt diese ganze 40jährige „Friedensarbeit“ auf den – Weltkrieg hin. Uferlose Rüstungen zu Wasser und zu Lande, Auspowerung der Massen, Teuerung und Hunger ergeben sich somit als die beiden zusammengebundenen Seiten der kapitalistisch-imperialistischen Entwicklung. Als Drittes kommt hinzu: immer gewaltigere, verschärfte, wirtschaftliche Kämpfe zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum, wie uns das jetzt die Aussperrung der Berliner Metallarbeiter wieder lehrt!

Regierung und die herrschenden kapitalistischen Parteien begründen die wahnwitzigen Rüstungen mit der Behauptung, das Land müsse gegen die „äußeren Feinde“ gerüstet sein. Wir glauben nicht an das Märchen, daß die Völker nur darauf warten, wie reißende Wölfe übereinander herzufallen und sich zu zerfleischen. Die Sozialdemokratie hat stets in wirksamster Weise für den Weltfrieden gewirkt, und Völkerfrieden und Völkerverbrüderung ist eines ihrer vornehmsten Ziele, nach denen sie strebt. Aber wir wissen sehr wohl, daß dieses Ziel niemals verwirklicht werden kann, solange die kapitalistische Gesellschaft besteht, solange es noch kapitalistische Staaten gibt. Erst dann, wenn das Proletariat reif und stark genug ist, um die politische Macht an sich zu reißen, wird der Weltfriede, wird die Völkerverbrüderung Wirklichkeit werden! (Sehr richtig!) Wollte die kapitalistische Gesellschaft, wie sie vorgibt, das Militär nur gegen den „äußeren Feind“ verwenden, dann könnte sie gar nichts Besseres tun, als die sozialdemokratische Programmforderung der Volksbewaffnung verwirklichen.[1] Nach Urteilen hervorragender militärischer Autoritäten ist der langjährige militärische Drill keineswegs eine Notwendigkeit, und zur kriegstüchtigen Ausbildung genügen schon einige Wochen. Wie dieser mehrjährige Kasernendrill schließlich zu einer Erziehung zur Bestialität wird, das beweisen die barbarischen Grausamkeiten, zu denen der Tripoliskrieg geführt hat – zur Schmach und Schande unserer vielgerühmten „Kultur“. (Sehr wahr!) Wenn das Volk bewaffnet ist und der Arbeiter das Gewehr in der Faust hat, dann wird auch das Volk selbst entscheiden, ob und gegen wen es kämpfen will; dann aber ist auch erst der Weltfriede gesichert.

Mit der Verteidigung gegen den äußeren Feind als Grund der maßlosen Rüstungen ist es also fauler Zauber. Wie unwahr diese Behauptung ist, zeigt uns ja sogleich ein Blick auf die Tatsachen. Erinnern wir uns doch nur der Wahlrechtsdemonstrationen im Jahre 1910 in Berlin und anderen deutschen Städten,[2] wo die Polizei mit wutverzerrten Gesichtern und wild gezückten Säbeln über die friedlich demonstrierende Arbeiterschaft hergefallen ist und Männer, Frauen und Greise niedergesäbelt hat. (Rufe: Halle, Halle!) Denken wir an Moabit, wo man die Arbeiter mit den vom Volke bezahlten

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[1] Gemeint ist die Forderung im Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das vom Erfurter Parteitag 1891 angenommen worden ist, die lautet: „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.“ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 4.

[2] Siehe Am 10. April 1910 hatten in ganz Preußen und in anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht stattgefunden, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wieder erkämpft hatten. Siehe auch S. 578 ff., S. 584 ff., S. 597 f. und S. 581, Fußnote 13.