Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 878

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Die Kritik der Sozialdemokratie mit allen Mitteln zu ersticken, seinen Kritikern den Mund gewaltsam zu verschließen, dies ist das neueste Unterfangen, auf das die Sachwalter verfallen sind. Schon im vorigen Jahre beschritt die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf diesen Weg, als sie die Broschüre „Der moderne Militarismus – ein Segen oder ein Unglück für das Volk?“ beschlagnahmte und den Genossen Limbertz wegen Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen verfolgte.[1] Das Urteil entsprach damals nicht dem Wunsche der Staatsanwaltschaft. Dann zeigte der Frankfurter Prozeß gegen die Genossin Luxemburg, mit welchen Mitteln der „Lebensnerv“ des modernen Klassenstaates geschützt werden soll.[2] Aber alles, was auf diesem Gebiete bisher erlebt ist, wird übertroffen durch den neuen Prozeß, der der Genossin Luxemburg jetzt vor der Strafkammer in Berlin gemacht ist,[3] und durch die gegen den verantwortlichen Redakteur des „Vorwärts“ eingeleiteten Prozeß.[4]

Die Genossin Luxemburg hat in einer Rede in Freiburg die allgemein bekannte Tatsache festgestellt, daß die Kasernendramen in Deutschland auf der Tagesordnung stehen.[5] Nicht mehr und nicht weniger. Und nun fühlt sich der Kriegsminister v. Falkenhayn im Namen sämtlicher Offiziere und Unteroffiziere des preußischen Heeres „beleidigt“, und der Staatsanwalt, der diese Beleidigung in seine mitfühlende Brust geschlossen hat, klagt sie an. Der „Vorwärts“ veröffentlichte ein einem bekannten Lied nachgebildetes Soldatenlied, das der traurigen, bitteren Stimmung eines Soldaten Ausdruck gibt. Das kann der Militarismus nicht mehr ertragen. Der „Vorwärts“ gibt den Soldatenbrief wieder, den das Mannheimer Parteiblatt vor kurzem veröffentlicht hat, und bezeichnet das Erlebnis des jungen Soldaten als typisch für das Kasernenleben.[6]

Man muß sich förmlich an den Kopf fassen, um diese ungeheuerlichen Prozesse für möglich zu halten. Es vergeht beinahe kein Tag, ohne daß die Zeitungen Soldatenmißhandlungen melden. Unzählige Male ist das Kapitel der Soldatenmißhandlungen als einer im System des heutigen Militarismus liegenden ständigen Erscheinung von Abgeordneten im Reichstag, von sozialdemokratischen Rednern in Volksversammlungen, von Parteiblättern in Artikeln und Notizen beleuchtet worden. Gerade in den letzten Monaten ist die Öffentlichkeit wiederholt durch Berichte über Scheußlichkeiten in den Kasernen aufs tiefste erregt. Und just in dieser Zeit verfällt die hohe

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[1] Die Broschüre Der moderne Militarismus – ein Segen oder ein Unglück für das Volk? war 1913 als Agitationsbroschüre des Sozialdemokratischen Büros für Rheinland-Westfalen erschienen. Heinrich Limbertz war vom 1. Februar 1911 bis 30. Juni 1913 Leiter des Büros.

[2] Am 20. Februar 1914 war von der 1. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Main) ein Prozeß gegen Rosa Luxemburg durchgeführt worden, weil sie in zwei Versammlungen – in Fechenheim und in Bockenheim im September 1913 – zum Kampf gegen die Kriegsgefahr aufgerufen und die Arbeiter aufgefordert hatte, im Falle eines Krieges nicht auf ihre Klassenbrüder in Frankreich und in anderen Ländern zu schießen. Siehe S. 789 ff. und S. 792 f. Siehe auch Militarismus, Krieg und Arbeiterklasse. Rosa Luxemburg vor der Frankfurter Strafkammer am 20. Februar 1914, Buchhandlung Volksstimme, Frankfurt am Main, o. D. [1914]. Rosa Luxemburgs Verteidigungsrede siehe GW, Bd. 3, S. 395 ff.

Das Urteil lautete: „Im Namen des Königs! In der Strafsache gegen Frau Rosalie Luxemburg in Berlin-Südende, Lindenstraße 2, geboren am 25. Dezember 1870 zu Zamos´c´, Bezirk Lublin in Rußland wegen Vergehens gegen § 110 Str.G.B’s, hat die 1. Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Frankfurt a. M. in der Sitzung vom 20. Februar 1914, an welcher teilgenommen haben: Landgerichtsdirektor Heldmann als Vorsitzender, Landgerichtsrat Wurmbach, Valentin, Wagner, Gerichtsassessor Enders, als beisitzende Richter, Staatsanwaltschaftsrat Hoffmann als Beamter der Staatsanwaltschaft, Referendar Hahn als Gerichtsschreiber, für Recht erkannt:

Die Angeklagte wird wegen zweier Vergehen gegen § 110 Str.G.B. zu einer Gefängnisstrafe von 1 – einem – Jahr verurteilt. Sie trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe. Die Angeklagte, die bekannte sozialdemokratische Agitatorin, trat am 25. September 1913 in Fechenheim und am 26. September 1913 in Frankfurt-Bockenheim in öffentlichen Volksversammlungen als Rednerin auf. In beiden Versammlungen, die nach ihren eigenen Angaben von Tausenden besucht waren, sprach sie über das Thema: Die politische Situation und die Aufgabe der Arbeiterschaft.

In der Fechenheimer Versammlung empfahl sie unter Anderem auch das Milizsystem, welches dem heute herrschenden Militärsystem vorzuziehen sei, und forderte, daß den entlassenen Soldaten das Gewehr mit nach Hause gegeben werde, damit sie es im gegebenen Fall gegen den inneren Feind richten könnten’, so bekundete der Zeuge Lenz diese Äußerung, oder ‚damit sie sich im gegebenen Fall‘ – so bekunden die Zeugen Wieland und Sperzel diese Äußerung – ‚überlegen könnten, wer ihr Feind sei‘. Sie sprach dann weiter von der Möglichkeit eines Krieges und äußerte hierbei: ‚Bei einem eventuellen Krieg sollten die Arbeiter es sich überlegen, ob sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten, auf ihre Brüder im Feindesland zu schießen. Infolge des allgemeinen Zusammenschlusses der Arbeiter sei es unbedingt durchführbar, im Kriegsfalle ein entschiedenes: Nein, auf unsere Brüder schießen wir nicht, auszusprechen.‘ In dieser Form wird diese Äußerung von dem Zeugen Lenz, welcher sich Notizen während der Rede der Angeklagten gemacht hat, wiedergegeben, und auch der Zeuge Wieland gibt sie in fast der nämlichen Form wieder. Der Zeuge Sperzel, welcher die Versammlung als Polizeibeamter überwacht hat, hat diese Äußerung allerdings nicht gehört. Er gibt an, daß er einen schlechten Platz hatte, von dem aus er nicht die ganze Rede verstehen konnte.

Durch einen in den Frankfurter Nachrichten erschienenen Artikel über diese Fechenheimer Versammlung aufmerksam gemacht besuchten die Redakteure der Frankfurter Warte, die Zeugen Henrici und Eisenträger die Versammlung in Bockenheim am folgenden Tag. Henrici machte sich während der Rede der Angeklagten stenographische Notizen. Auch in dieser Versammlung empfahl die Angeklagte das Milizsystem und äußerte hierbei, jeder entlassene Soldat müsse sein Gewehr mitbekommen und am Küchenschrank hängen haben, wenn die Waffe auch einmal in einer nicht gewünschten Richtung gebraucht werden könne. Nachdem die Angeklagte dann weiter über den Massenstreik und die Wahlrechtsdemonstrationen geredet hatte, erörterte sie die Möglichkeit eines bevorstehenden Weltkrieges und äußerte hierbei wörtlich: ‚Bei einem Kriege fragen wir uns: Werden wir uns einen Krieg ungestraft gefallen lassen?‘ Aus der Versammlung ertönten hierauf Zurufe: ‚Niemals‘. Sie fuhr daraufhin fort: ‚Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen Brüder zu erheben, dann rufen wir: Das tun wir nicht.‘ Auf diese Äußerungen der Angeklagten folgte sekundenlanger Beifall und sie bildeten nach Ansicht des Zeugen Eisenträger den Höhepunkt des Vortrags.

Die Angeklagte gibt mit einer alsbald zu besprechenden Ausnahme zu, diese, ihr zur Last gelegten Äußerungen getan zu haben. Sie bestreitet aber, sich dadurch strafbar gemacht zu haben und führt aus: Einzelne ihrer Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen, wie sie die Zeugen wiedergegeben hätten, gäben nur ein Zerrbild von dem, was sie gesagt habe und was sie habe sagen wollen und wie auch ihre sozialdemokratischen Hörer ihre Rede aufgefaßt hätten. Sie habe nicht zum Vorgesetztenmord aufgefordert. Denn selbst wenn diese Äußerung so gefallen sei, wie sie die Zeugen bekundeten, so müsse man sich fragen, wann und gegen welche Vorgesetzte sie zum Mord aufgefordert habe. […] Sie habe aber auch die Soldaten nicht aufgefordert, den Befehlen ihrer Vorgesetzten nicht nachzukommen. […] Demnach ist tatsächlich festgestellt, daß die Angeklagte durch zwei selbständige Handlungen 1) am 25. September 1913 zu Fechenheim, 2) am 26. September 1913 zu Frankfurt a. M.-Bockenheim öffentlich vor einer Menschenmenge zum Ungehorsam gegen Gesetze aufgefordert hat. – Vergehen gegen §§ 110.74 St.G.B.- […] Die in § 95 Absatz 2 des Militärstrafgesetzbuchs angedrohten Strafen zeigen, daß das Gesetz den Ungehorsam vor dem Feind, insbesondere die Verweigerung des Gehorsams gegen einen vor dem Feind erteilten Befehl zu den schwersten Verbrechen zählt. Mit Rücksicht hierauf mußte auf eine erhebliche Strafe erkannt werden und es war eine Geldstrafe ausgeschlossen. Wenn an sich auch eine noch höhere Strafe angemessen erschien, so erachtete doch das Gericht, da die Angeklagte als Frau von einer Freiheitsstrafe härter betroffen wird, wie ein Mann für jeden der beiden, gleichliegenden Fälle eine Gefängnisstrafe von neun Monaten für ausreichend und angemessen. Die gemäß § 74 St. G. B. zu bildende Gesamtstrafe wurde auf ein Jahr bemessen. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 497 St. P. O.“ Siehe SAPMO-BArch, NY 4002/76, Bl. 148–158. – Laut Kostenrechnung der Staatsanwaltschaft, ebenda, Bl. 249, betrugen die Kosten 474,80 M.

Die Rechtsanwälte Dr. Paul Levi und Dr. Kurt Rosenfeld legten gegen das Urteil Revision ein, ebenda, Bl. 159 ff. Die Behandlung der Revision war ursprünglich für den 27. Juni 1914 vor dem 1. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig vorgesehen. Mit Schreiben vom 18. Juni 1914 wurde Rosa Luxemburg davon in Kenntnis gesetzt, daß dieser Termin aufgehoben sei und ihre Revision nunmehr am 22. Oktober 1914 vor derselben Instanz verhandelt werden sollte. In dieser Verhandlung wurde die Revision verworfen, ebenda, Bl. 192 ff. Damit war das Frankfurter Urteil vom 20. Februar 1914 rechtskräftig.

Die entscheidende Passage in der Anklagerede des Staatsanwalts Dr. Hoffmann, auf die sich Rosa Luxemburg wiederholt polemisch bezog, hatte folgenden Wortlaut: „Die Angeklagte überlegt sich genau, was sie sagt. Ihre ganze Persönlichkeit ist nicht geeignet, eine milde Auffassung hervorzurufen. Sie gehört der extremsten Gruppe des radikalsten Flügels der Sozialdemokratie an. Sie ist bekannt durch ihre außerordentlich scharfen Reden. Sie trägt den Beinamen ‚die rote Rosa‘ nicht mit Unrecht. Die Frankfurter Reden zeigen, was sie in ihrem Kopfe denkt, was sie in ihrer Brust fühlt. Sie spielt mit dem Massenstreik, sie animiert zum Mord, sie fordert zur Meuterei auf. Das läßt erkennen, von welcher Todfeindschaft die Angeklagte gegen die bestehende Staatsordnung erfüllt ist. Wenn irgendeine unbekannte Agitatorin die Rede gehalten hätte, so würde sie mit einer geringen Strafe davonkommen. Aber die Angeklagte wird sich gefallen lassen müssen, daß die Strafe ihrer Bedeutung, ihrer Vergangenheit und ihrer außerordentlich starken staatsfeindlichen Gesinnung entspricht. Das Hauptwort bei der Strafe spricht nicht die Gefährlichkeit der Person, sondern die Gefährlichkeit der Tat. Die Tat ist eine ganz außerordentlich gefährliche. Damals waren gerade die Balkanwirren zu Ende. Es lag Explosivstoff in der Luft. Das wußte die Angeklagte. Um so verwerflicher war es, daß sie die Meuterei predigte, wenn es zum Kriege käme. Man lasse nur ein bis zwei Dutzend derart verhetzter entschlossener Leute in einer Kompanie sein, so würde es diesen Leuten ein leichtes werden, ein bis zwei Dutzend andere Leute auf ihre Seite zu bekommen. Das würde vollkommen genügen, um plötzlich eine Meuterei hervorzubringen. Kommt infolge einer Meuterei das Gefecht zum Stehen, dann müssen die allerschlimmsten Folgen kommen. Die Entscheidungsschlacht kann durch eine derartige plötzliche Meuterei verloren gehen. Man denke auch an den niederschmetternden Eindruck, den eine solche Meuterei im eigenen Heere und beim Feinde hervorrufen müßte. Ein einziger Fall einer solchen Meuterei vor dem Feinde kann außerordentlich schwerwiegende Folgen haben, kann unter Umständen sogar katastrophal wirken.

Das alles hat die Angeklagte gewußt. Das sind keine Hirngespinste und keine Phantasieprodukte, die zu scharfmacherischen Zwecken vorgetragen werden. Es sind lebendige Wirklichkeiten, die jeden Tag eintreten können. Die Tatsache, daß derartige Möglichkeiten vorliegen, stempeln die Tat der Angeklagten zu einer ganz außerordentlich gefährlichen. Was die Angeklagte getan hat, ist ein Attentat auf den Lebensnerv unseres Staates.“ Zitiert nach Vorwärts (Berlin), Nr. 54 vom 24. Februar 1914.

[3] Am 22. Mai 1914 erhielt Rosa Luxemburg die Anklage zu einem 2. Prozeß im Jahre 1914. Der Kriegsminister v. Falkenhayn bezog sich in seinem vom Kanzler Bethmann Hollweg bewilligten Strafantrag auf Rosa Luxemburgs Rede in Freiburg i. Br. am 7. März 1914 (Siehe S. 825 im vorliegenden Band und GW, Bd. 3, S. 414 ff.) In dieser Rede habe sie gesagt, in der deutschen Armee seien Soldatenmißhandlungen an der Tagesordnung. Rosa Luxemburg bekannte sich zu dieser Äußerung. Siehe S. 882 ff. „Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Freude mir die Sache macht“, schrieb sie an Eva und Franz Mehring am 22. Mai 1914. „Wieder also ein Prozeß, in dem nicht etwa ein Lapsus linguae, eine Dummheit oder Ungeschicklichkeit des Redners zu Gericht steht, sondern elementare Wahrheiten, notwendige Bestandteile unserer politischen Aufklärung.“ Siehe GB, Bd. 4, S. 347. An Clara Zetkin hieß es: „Sie wollen mich also niederhetzen mit Prozessen, aber ich lasse mir die gute Laune nicht verderben.“ Ebenda, S. 348. Bei der Staatsanwaltschaft bzw. beim Oberstaatsanwalt beriet man Mitte Mai 1914 insgeheim, „ob man zu einem großen Schlag ausholen soll“. „Liebling“, schrieb sie am 22. Mai 1914 an Paul Levi, „die Anklage ist da: vor dem Landgericht II Berlin (die schlimmste Strafkammer Berlins, wie mir R[osenfeld] sagte), Kläger der Kriegsminister, auf §§ 186, 196, 200, 61. Wir werden also die Militärmißhandlungen aufrollen.“ Siehe GB, Bd. 5 S. 437 und 439. Clara Zetkin gegenüber klagte sie angesichts des Hin und Her wegen der Aufrufe an Betroffene und Zeugen von Soldatenmißhandlungen: „Vom Parteivorstand und der Fraktion werde ich behandelt wie eine Verbrecherin.“ Siehe GB, Bd. 4, S. 348. Ihren Artikel Unser Kampf gegen Kasernenrohheit siehe S. 877 ff. Erst am 23. Juni 1914, wenige Tage vor Prozeßbeginn, erschien im Vorwärts (Berlin) ein Aufruf Gegen die Militärmißhandlungen, Zeugen heraus! Mitte Juni 1914 hatte sie sich mit ihren Rechtsanwälten Dr. Kurt Rosenfeld und Dr. Paul Levi entschlossen, keinen Terminaufschub zu beantragen, obwohl die Behandlung ihres Antrages auf Revision des Urteils des Frankfurter Landgerichts II vom 20. Februar 1914 auf den 27. Juni 1914 vor dem 1. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig festgelegt worden war. Dieser Termin wurde am 18. Juni 1914 auf den 22. Oktober 1914 verschoben und fand schließlich gar nicht statt. Die Revision wurde abgelehnt. Die Annahme des 29. Juni 1914 für den 2. Prozeß war von der Angeklagten und ihren Verteidigern insofern für etwas problematisch angesehen worden, weil das Ergebnis des Revisionsprozesses hätte evtl. auf den 2. Prozeß verschärfend wirken können. Siehe AdsD, Bonn, Nachlaß Paul Levi, 1/PLAA000255.

„Es kennzeichnet die politischen Zustände im neuen Deutschland“, vermerkte der Vorwärts (Berlin) in Nr. 174 vom 29. Juni 1914, „daß gegen die Greuel der Soldatenschinderei die Sozialdemokratie ganz allein den Kampf führen muß. Die bürgerlichen Parteien haben das längst aufgegeben. Seit Wochen vergeht, wie gesagt, kein Tag, an dem nicht ein Kriegsgericht die Schuldigen wegen Mißhandlungen verurteilt, aber auch in der freisinnigen Presse wird man vergebens auch nur die Registrierung dieser Fälle suchen. Mit christlicher Liebe wird über diese Schandtaten geschwiegen. Die Sozialdemokratie allein legt den Finger in die Wunde. Sie muß dabei zugleich eines der wichtigsten bürgerlichen Rechte, das Recht der öffentlichen Kritik, verteidigen, das man zu vernichten sucht.“ Die Angeklagte habe einen umfangreichen Wahrheitsbeweis für ihre Behauptung angeboten. Das Gericht habe aber die Ladung aller Zeugen abgelehnt, ebenso die beantragte Einforderung von Urteilen der Kriegsgerichte aus den letzten sechs Jahren, die in Prozessen wegen Soldatenmißhandlungen ergangen sind. Siehe Vorwärts (Berlin), Nr. 173 vom 28. Juni 1914. – Siehe auch die Presseausschnitte aus weiteren sozialdemokratischen Zeitungen über den Soldatenmißhandlungsprozeß. In: SAPMO-BArch, NY 4002/63, Bl. 1 ff.

[4] Vom 9. bis 12. Oktober 1907 war auf Betreiben des preußischen Kriegsministers Karl von Einem gegen Karl Liebknecht ein Hochverratsprozeß wegen seines Buches Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung angestrengt worden. Liebknecht wurde zu einundeinhalb Jahren Festung verurteilt, die er in Glatz verbringen mußte.

[5] Paragraph 110 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich besagte, daß derjenige, der öffentlich – mündlich oder schriftlich – zum Ungehorsam gegen die Gesetze der herrschenden Ordnung auffordert, mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft wird. Treudeutscher Hochverrat hatte der Vorwärts (Berlin), Nr. 47 vom 17. Februar 1914 seine Mitteilung überschrieben, in der es hieß: „Die in Frankfurt a. M. erscheinende, von dem sattsam bekannten E. Henrici geleitete antisemitische Frankfurter Warte übersendete anonym der Staatsanwaltschaft in Frankfurt a. M. ihren Artikel, überschrieben Aufforderung zum Hochverrat. In diesem wird von der Behörde verlangt, sie solle gegen die Genossin Dr. Luxemburg wegen – Hochverrat einschreiten. Der liege in einer Rede, die die Genossin im September 1913 in Frankfurt gehalten hatte.“ Siehe RGASPI, Moskau, Fonds 191, Nr. 628, Bl. 29.

[6] Der Paragraph 110 bestraft nur Aufforderung. Der Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch will diese „Lücke“ dadurch ausfüllen, daß er das Aufreizen dem Auffordern gleichstellt. Begründet wird diese Erweiterung in dem Entwurf damit, „daß gerade die geschicktesten und gefährlichsten Volksaufwiegler die Form der Aufforderung vermeiden und dafür die bisher straflose Anreizung zu wählen verstehen“. Siehe Vorwärts (Berlin), Nr. 51 vom 21. Februar 1914. In: RGASPI, Moskau, Fonds 191, Nr. 628, Bl. 30.