Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 743

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inszenierte sie ein Judenmassaker, worauf die Regierung die Parole ausgab: Blei wird nicht gespart! Hundert Mann blieben auf der Strecke. Nach dieser Explosion, die in den Kreisen eines Teils der polnischen Sozialisten die größten Hoffnungen auf den sofortigen Aufschwung der polnischen Arbeiterbewegung weckte, blieb der Łódźer Vulkan zwölf Jahre lang ruhig, nur durch Zuckungen von Zeit zu Zeit die Lava verratend, die in seinem Innern glühte. Die Lage der Arbeiterschaft war in Łódź die gedrückteste. Nach der Statistik betrug im Jahre 1897 der durchschnittliche jährliche Lohn eines Fabrikarbeiters in Russisch-Polen 480 M, der Łódźer Textilarbeiter aber 440 M, wobei gewisse Kategorien, wie die Arbeiter in den Leinen- und Jutefabriken, nicht viel über 300 M jährlich verdienten. Über die tyrannische Willkür der Meister und Fabrikanten, über das Prostituieren der Arbeiterinnen durch sie könnte man ein Buch schreiben, demgegenüber der „Garten der Qualen“ Octave Mirbeaus[1] als ein Buch für höhere Töchter gelten würde. Was Wunder, daß die Nachrichten von den Niederlagen des Zarismus in der Mandschurei[2] und dem Kampfe der russischen Arbeiterschaft, die schon im Jahre 1904 durch Arbeitslosigkeit in Bewegung gebrachten Arbeitermassen von Łódź – die Sozialdemokratie organisierte in dieser Zeit schon Arbeitslosendemonstrationen – in einen reißenden Streikstrom verwandelte. Das Jahr 1905 sah ein Aufbäumen der Arbeitermassen in Łódź, wie es sonst nur aus der Geschichte des Chartismus in England[3] bekannt ist. Man nahm Rache für die fünfzigjährige Schmach der unmenschlichen Ausbeutung und Erniedrigung. Kurze Arbeitszeit, besserer Lohn, in erster Linie aber Rache! Das waren die Losungen der Łódźer Arbeiter. Auf Mistkarren wurden die ärgsten Bluthunde des Kapitals, die Ingenieure und Meister aus der Fabrik hinaustransportiert, den Kopf in einen Sack gesteckt. Die Gewerkschaften, die sozialistischen Organisationen wuchsen von Tag zu Tag und wie in religiöser Verzückung lauschten die gemarterten Arbeiter der Kunde vom Sozialismus. Wer eines dieser Massenmeetings in den ungeheuren Fabriken erlebt hat, wo die Agitatoren der Sozialdemokratie in polnischer und deutscher Sprache den an ihrem Munde hängenden Massen den Sozialismus predigten – neben Hunderten von Ungenannten waren es, man kann es jetzt doch sagen, unser Pariser Mitarbeiter, der Genosse Z. Leder, und der Genosse Malecki, die in jener Zeit zu historischen Gestalten der polnischen Arbeiterbewegung wurden – der wird niemals mehr dieses grandiose, überwältigende Bild der Regeneration einer Arbeiterklasse unter dem belebenden Hauch der Revolution und des Sozialismus vergessen.

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[1] Le Jardin des supplices (Der Garten der Qualen / Der Garten der Foltern), von Octave Mirbeau erschien 1899, deutsch 1902.

[2] Es handelt sich um den Russisch-Japanischen Krieg, der von Januar 1904 bis September 1905 um die Vorherrschaft im Fernen Osten geführt wurde. Dieser Krieg endete mit einer schweren Niederlage der russischen Truppen, die die revolutionäre Krise in Rußland verschärfte.

[3] Die Chartistenbewegung in England, eine Frühform der Arbeiterbewegung, basierte auf dem 1836 in London und 1837/1838 in Birmingham zur Durchsetzung eines Verfassungsvorschlages (der 6-Punkte-Peoples-Charter) entstandenen ersten politischen Arbeiterorganisationen. Ihre heterogene Zusammensetzung aus kleinbürgerlichen Radikalen, Handwerkern und Industrieproletariern verhinderte einheitliche Kampfaktionen in ganz England und führte letztlich zu ihrem Niedergang nach 1848/49.