Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 744

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Wenn die Łódźer Arbeiterschaft damals in revolutionärem Elan in heldenhafter Ausdauer an der Spitze des ganzen polnischen Proletariats marschierte, wenn sie die größten Organisationen schuf – über 30 Tausend Mitglieder zählten die illegalen Organisationen der beiden sozialistischen Parteien[1] in den zwei Jahren der Revolution – so ermannten sich auch die Fabrikanten in Łódź zuerst und griffen zu Aussperrungen. Schon im Sommer des Jahres 1906 begannen sie mit Stockprügeln auf den Magen gegen die revolutionäre Armee vorzugehen. Aber das waren nur kleine Anfänge in einzelnen Fabriken. Als jedoch die Regierung die erste Duma auseinanderjagte, als es sich erwies, daß die Arbeitermasse keine Macht mehr hatte, dagegen mit verschärften Mitteln vorzugehen, da dekretierten die Leiter der größten Fabriken in Łódź aus ihrem sicheren Berliner Schlupfwinkel im Dezember 1906 eine Massenaussperrung von 40000 Arbeitern. Das Proletariat Polens wußte, welche Bedeutung dieses Ringen hatte. Und die Kapitalisten hielten den Zweck der Übung auch nicht verborgen. Die Aussperrung ist ein schreckliches Mittel – sagte damals der Fabrikant Poznan´ski zu den Arbeitervertretern, die zu Unterhandlungen mit ihm nach Berlin kamen – aber es ist ein Erziehungsmittel: „durch größte Not sollen die Arbeiter erfahren, daß nur der Fabrikant der Herr der Fabrik sein kann“. 800000 M sammelten die Arbeiter Polens, um den Kapitalmagnaten zu zeigen, daß die Łódźer Arbeiter sich dem Herrenstandpunkt des Kapitals nicht fügen würden. Aber nach einem drei Monate langen Ringen streckte die Łódźer Arbeiterschaft die Waffen. Vom Waffenstillstand schrieb damals die polnische Arbeiterpresse. Er sollte jedoch lange, sehr lange dauern, und mehr Opfer von der Arbeiterklasse erfordern, als der Kampf. In ganz Rußland gewann der Zarismus die Oberhand, als die besitzenden Klassen sich aus Angst vor dem Proletariat auf seine Seite stellten. Es begann die Schreckensherrschaft im ganzen Reiche: der Galgen begann zu arbeiten, wie niemals und nirgendwo in der Welt.[2] In Łódź wurde er auf einem Gefängnishofe aufgestellt, daß man ihn in der Stadt sehen konnte. Auf den Straßen wütete tagtäglich die Soldateska, in den Polizeirevieren wurden Foltern angewendet, auf denen die Trotzigen zu Tode gemartert oder in den Wahnsinn getrieben und die Schwachen zu Judassen gemacht wurden. Die Bilder aus den Łódźer Gefängnissen, die Genosse Feliks Kon[3] in seinem Buche über die Kriegs-

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[1] Gemeint sind die SDKPiL und die PPS. Die 1893 in Zürich von Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Julian Marchlewski und Adolf Warski gegründete Sozialdemokratie des Königreichs Polen (Socjaldemocracja Królestwo Polskiego) – SDKP verstand sich als internationalistische Partei, die konsequent zu den Auffassungen von Marx und Engels stand. Sie orientierte auf den revolutionären Sturz des Zarismus durch die Arbeiterklasse in Rußland, wobei das gemeinsame Anliegen Nationalitätenunterschiede in den Hintergrund rücken sollte. Da um die Jahrhundertwende polnischsprachige Arbeiterkreise aus Wilna (Vilnius) und Bial⁄ystok hinzugewonnen werden konnten, nannte sie sich nunmehr Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (Socjaldemocracja Królestwa Polskiego i Litwy) – SDKPiL. Bis zum Ausbruch der Revolution 1905 hatte sie 1000 bis 2000 Mitglieder, in der Revolution wurde sie zu einer Massenpartei und zählte 1906 etwa 30000 Mitglieder. – Die Konstituierung der Polska Partia Socjalistyczna (PPS – Polnische Sozialistische Partei) in dem von Preußen annektierten Teil von Polen war am 10. September 1893 aus der 1890 gegründeten Vereinigung polnischer Sozialisten unter Führung von Franciczek Morawski und Franciczek Merkowski mit anderen polnischen sozialistischen Gruppen erfolgt. Die PPS blieb bis 1903 autonomer Bestandteil der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Siehe hierzu Zur Frage der polnischen Einigung und Wie die polnische Sonderorganisation die „Einigung“ versteht. In: GW, Bd. 6, S. 467 ff. und 473 f. Die PPS im preußischen Teil Polens hielt engen Kontakt zur 1892 in Paris aus verschiedenen sozialistischen Zirkeln gegründeten Polska Partia Socjalistyczna (PPS – Polnische Sozialistische Partei) und mit der 1892 in Lemberg (Lwiw) gegründeten Sozialdemokratischen Partei Galiziens (Socjalno-Demokratyczna Partia w Galicji), aus der mit ihrem führenden Vertreter Ignacy Daszýnski 1897 die Polnische Sozialdemokratische Partei Galiziens und des Teschener Schlesiens (PPSD – Polska Socjalno-Demokratyczna w Galicji i S´la˛ska Cieszýnsiego) hervorging.

Die Polnische Sozialistische Partei im preußischen Teilungsgebiet bemühte sich nach dem selbstverschuldeten Bruch mit der SPD im Jahre 1903 um eine neuerliche Einigung, die im Frühjahr 1906 tatsächlich erfolgte. Auf dem 9. Parteitag der PPS am 15./16. April 1906 wurden die Leitlinien des SPD-Parteivorstands angenommen. Damit galt als festgelegt, daß die polnischen Sozialdemokraten im Deutsch Reich (PPS) eine selbständige Organisation bilden, die aber Bestandteil der Gesamtpartei (SPD) ist. Die Aufstellung der Reichstagskandidaten werde auf Konferenzen im Wahlkreis erfolgen. Bei Nichteinigung sollten sich die Parteivorstände der polnischen Partei und der Gesamtpartei verständigen. Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906, Berlin 1906, S. 17 f.

[2] Siehe z. B. Rosa Luxemburg. Das Regime Stolypin. In: GW, Bd. 7/2, S. 691 ff.

[3] Siehe Sa˛dy wojenne w Królestwie Polskim (Kriegsgerichte im Königreich Polen), Kraków 1909. Diese Broschüre erschien mit den Initialen F. K. (Feliks Kon) als Publikation im Verlag von Mys´l Socjalistyczny, der theoretischen Zeitschrift der PPS-Lewica. Rosa Luxemburg besprach die Broschüre von Feliks Kon ausführlich unter der Überschrift Ein Denkmal der Schande in: Pomnik han´by, Przegla˛d Socjaldemokratyczny, Nr. 13, Juli 1909, S. 228–252.