Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 776

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mit den Riesen der großen Revolution die Pygmäen der 1848er Revolution,[1] und mit diesen wieder die Knirpse des bürgerlichen Lagers in der russischen Revolution[2] oder die heutigen Führer der bürgerlichen Parteien in Deutschland wie in sämtlichen westeuropäischen Ländern.

Die Sozialdemokratie ist nichts anderes als die Vorhut des modernen Proletariats, das zum Bewußtsein über die historischen Bedingungen und die Aufgaben seines Klassenkampfes erwacht ist. Ihr eigentlicher Führer ist in Wirklichkeit die Masse selbst, und zwar dies dialektisch in ihrem Entwicklungsprozeß aufgefaßt. Je mehr sich die Sozialdemokratie entwickelt, wächst, erstarkt, um so mehr muß die aufgeklärte Arbeitermasse mit jedem Tage ihre Schicksale, die Leitung ihrer Gesamtbewegung, die Bestimmung ihrer Richtlinien in die eigene Hand nehmen. Und wie die Sozialdemokratie im ganzen nur die zielklare Vordertruppe der proletarischen Klassenbewegung ist, die nach den Worten des „Kommunistischen Manifestes“ in jedem Einzelmoment des Kampfes die dauernden Interessen der Befreiung und jedem besonderen Gruppeninteresse der Arbeiterschaft gegenüber die Interessen der Gesamtbewegung vertritt, so sind innerhalb der Sozialdemokratie die Führer um so mächtiger, um so einflußreicher, je klarer und bewußter sie sich selbst nur zum Sprachrohr des Willens und Strebens der aufgeklärten kämpfenden Massen, nur zu Trägern der objektiven Gesetze der Klassenbewegung machen.

Die deutsche Sozialdemokratie hat in ihrem Werdegang viele imposante Charaktere, talentvolle Köpfe an ihrer Spitze gesehen. Sie hat keinen gehabt, der die Vorbedingungen eines Führers der modernen proletarischen Klassenbewegung, wie sie durch die objektiven Bedingungen dieser Bewegung gegeben sind, in so hohem Maße und in so glücklicher Mischung besessen hätte wie August Bebel.

Vor allem ist die geistige Lebensgeschichte Bebels mit der Entwicklungsgeschichte der deutschen Sozialdemokratie gleichbedeutend. Weder hat sich Bebel als geistig Fertiger der Klassenpartei des Proletariats angeschlossen noch war die Sozialdemokratie ein reifes Parteigebilde, als er in ihre Reihen trat. Bebel hat den ganzen Werdegang der Partei seit den sechziger Jahren mitgemacht, er rang sich von bürgerlich-demokratischer zur proletarisch-revolutionären Auffassung zusammen mit der Vorhut der deutschen Arbeiterklasse durch, er hatte alle inneren und äußeren Kämpfe und Krisen der jungen Parteibewegung mitgemacht. In ihren anfänglichen Fraktionskämpfen zwischen den Lassalleanern und den Eisenachern stand er in erster Reihe.[3] In der Ära des

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[1] Am 18. März 1848 hatten Berliner Arbeiter, Kleinbürger und Studenten den Kampf mit dem preußischen Militär aufgenommen, Barrikaden errichtet und den preußischen Truppen eine Niederlage zugefügt. Friedrich Wilhelm IV. war gezwungen worden, das Militär aus Berlin zu entfernen. Die Regierungsgewalt ging in die Hände der liberalen Bourgeoisie über. Am 8. November 1848 begann der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Unter Befehl des Generals Friedrich von Wrangel marschierte in Berlin Militär ein. Trotz der militärischen Auflösung der Nationalversammlung, der Entwaffnung der Bürgerwehr und der Verhängung des Belagerungszustandes rief die liberale Bourgeoisie die bereitstehenden revolutionären Volksmassen nicht zum aktiven Widerstand auf. Mit dem Verzicht auf ihre in den Märzkämpfen errungenen Positionen verriet die Bourgeoisie die Revolution. Auf dieses Versagen des Liberalismus kam Rosa Luxemburg mehrfach ausführlich und kritisch zu sprechen.

[2] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06. – Siehe auch Rosa Luxemburg: Das Regime Stolypin. In: GW, Bd. 7/2, S. 691 ff.; dies.: Die sozialdemokratische Fraktion in der 4. Duma. In: ebenda, S. 750 ff.

[3] Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) erfolgte am 23. Mai 1863, in dem sich die Lassalleaner formierten. Der Eisenacher Kongreß fand vom 7. bis 9. August 1869 als Allgemeiner Deutscher Sozialdemokratischer Arbeiterkongreß statt. Unter Einfluß von Karl Marx und Friedrich Engels und durch wesentlichen Anteil von August Bebel und Wilhelm Liebknecht wurde auf ihm die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) gegründet.