Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 787

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3. Die Militärdienstverweigerung. Diese führt wenigstens zunächst zu nichts als zu Gefängnis und in Zeiten der Aufregung zur Todesstrafe der einzelnen Dienstverweigerer. (Zustimmung.)

Das einzige Mittel, das übrigbleibt, ist der politische Streik. Ein anderes Gewaltmittel hat das Proletariat, für’s erste wenigstens, nicht. Dies ist der Hauptpunkt und ich möchte die Aufmerksamkeit der Genossen hierauf lenken. Denn es folgt hieraus, daß derjenige, der dieses Mittel des äußersten Kampfes, zum Angriff oder zur Abwehr, ohne weiteres verwirft, von vornherein schon jeden gewalttätigen Widerstand des Proletariats verwirft, denn es bleibt ihm nichts anderes mehr übrig. Gewerkschaft, Wahlrecht, Genossenschaft, sie können mit einem Male gesetzlich beseitigt werden, das allmähliche, gesetzmäßige Wachstum, das die Sozialdemokratie wünscht, kann mit einem Schlage vereitelt werden. Was soll dann geschehen, wenn es keine Gewaltmittel gibt? Wir treten hiermit nicht für den Massenstreik ein. Es ist viel zu klar, daß er vorderhand noch ein sehr gefährliches Mittel ist. Ich lege aber den Genossen die Frage vor: Was tut ihr, wenn ihr dieses Mittel absolut verwerft? –

Wenn einer glaubt, daß ein ausschlaggebender Teil der Bourgeoisie allmählich auf unsere Seite kommen wird, daß die Liberalen und Fortschrittler allmählich Kompromisse und Bündnisse mit uns werden schließen müssen, in denen wir die Stärkeren sind, die nicht nur dazu dienen, durch geringfügige Zugeständnisse an einen Teil des Proletariats das ganze Proletariat zu schwächen, um später, sobald es sich um wirkliche Interessen handelt, uns den Rücken zuzukehren, wenn einer, mit einem Worte, nicht glaubt, daß die Kluft zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden so tief ist, daß schließlich die Bourgeoisie Gewalt gegen uns brauchen wird, sobald wir ihren Privatbesitz angreifen, was wir durch die geschichtliche Entwicklung gezwungen sind, zu tun, wenn einer diese Überzeugung hat, ja, dann kann er sagen: Ich verwerfe den politischen Streik, denn es gibt einen viel sicheren Weg. Aber von einer solchen Pazifizierung[1] eines wirklich großen Teiles der Bourgeoisie zeige sich noch nichts. Im Gegenteil, in allen Ländern hat die Reaktion das Wort. Einfuhrzölle, Militarismus, Imperialismus, das sind überall die Mittel der Bourgeoisie, durch die sie ihre Macht ausbreitet und die Arbeiter noch mehr drückt. Im Vergleich damit ist das bißchen Arbeitergesetzgebung wie ein Butterbrot gegen ein Festessen. (Lebhafte Zustimmung.) Von einer Abschwächung der Klassengegensätze ist keine Rede, höchstens von einem Stehenbleiben auf einem toten Punkte. Die Genossen müssen mich hier recht verstehen, ich verneine nicht die Möglichkeit, daß ein Teil der Bourgeoisie zu anderen Gedanken kommt und den Sozialismus als einzigen Ausweg aus den steigenden Nöten des Kapitalismus annimmt. Es läßt sich wohl dies und jenes nennen, wodurch die Chance auf solch eine Möglichkeit schwach sichtbar werden kann. (Zuruf: Dämpfung![2] Große anhaltende Heiterkeit.) Aber ich sage nur: Vorläufig sehen wir das Entgegengesetzte, das heißt

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[1] In der Quelle: Pazifikation.

[2] Für die Stichwahlen im Januar 1912 hatte der Parteivorstand mit der Fortschrittlichen Volkspartei ein geheimes Abkommen über gegenseitige Wahlhilfe abgeschlossen. Demzufolge sollte die Fortschrittliche Volkspartei in 31 Reichstagswahlkreisen die sozialdemokratischen Kandidaten unterstützen, während der Parteivorstand sich verpflichtete, in 16 Reichstagswahlkreisen „bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten“. Siehe Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 395. – Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.