Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 667

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/667

ihrem Wesen fremdes Produkt der begüterten Minderheit darstelle. Nach dieser Erkenntnis faßt der von ganz Rußland und der Welt gefeierte Dichter den Entschluß, sich selbst jedes weiteren künstlerischen Schaffens zu enthalten und sich ganz dem Grübeln über sein soziales Problem zu widmen, aus dem auch neben zahlreichen Propagandaschriften das letzte große Werk „Die Auferstehung“ geboren ist.

Die Kritik, die Tolstoi an den bestehenden Zuständen übt, ist eine radikale; sie kennt keine Schranken, keine Rücksichten, keine Kompromisse. Und er kennt auch keine Mittelwege und keine Palliative zur Linderung der sozialen Übel. Gänzliche Aufhebung des Privateigentums und des Staates, allgemeine Arbeitspflicht, völlige ökonomische und soziale Gleichheit, gänzliche Beseitigung des Militarismus, Völkerverbrüderung, Weltfriede und Gleichstellung alles dessen, was Menschenantlitz trägt – das ist das Ideal, das Tolstoi unermüdlich, mit dem Starrsinn eines großen, tief überzeugten Propheten predigt.

Die soziale Kritik und die sozialen Ideale Tolstois stellen ihn also in die Reihen des Sozialismus, in die Ruhmeshalle der großen Geister, die dem modernen Proletariat auf seiner historischen Befreiungsbahn voranleuchten. Und doch war niemand vom Verständnis für die moderne Arbeiterbewegung, von ihrem Ideengehalt weiter entfernt als Tolstoi. Kommt er zur Beantwortung der Frage, wie ist das soziale Ideal zu verwirklichen, so wendet sich Tolstoi von dem geschichtlichen Wege des Proletariats ab, verabscheut die Revolution und den Klassenkampf und predigt – die innere Läuterung des Menschen durch die Lehren des Christentums:

„Der von den Revolutionären vorgeschlagene Ausweg, daß man die Gewalt durch Gewalt zu bekämpfen [hat], ist augenscheinlich unmöglich. Die Regierungen, die bereits über eine disziplinierte Gewalt verfügen, werden niemals die Bildung einer anderen ebenso disziplinierten Gewalt dulden. Alle Versuche des vorigen Jahrhunderts (Tolstoi schreibt dies im Oktober 1900) zeigten, daß sie vergebens sind. Der Ausweg liegt auch nicht, wie einige Sozialisten glauben, darin, daß eine große wirtschaftliche Macht geschaffen werde, welche die gefestigte Macht der Kapitalisten besiegen könnte. Niemals werden die Arbeiterverbände, welche über einige Millionen verfügen, gegen die wirtschaftliche Übermacht der Milliardäre, welche von der militärischen Gewalt unterstützt werden, kämpfen können. Ebenso wenig ist der Ausweg möglich, welchen andere Sozialisten in der Gewinnung der Mehrheit des Parlaments sehen. Eine solche Parlamentsmehrheit wird nichts erreichen, solange das Heer in den Händen der Regierungen sein wird. – Auch das Hineintragen von sozialistischen Prinzipien in das Heer wird nichts bewirken. Die Hypnotisierung des Heeres ist eine so geschickte, daß auch der freidenkendste und vernünftigste Mensch, solange er im Heere ist, immer das erfüllen wird, was von ihm verlangt wird.“[1]

Nächste Seite »



[1] Es handelt sich um kein wortwörtliches Zitat aus dem Aufruf an die Menschheit von Tolstoi. In: Leo N. Tolstoi: Sämtliche Werke. Von dem Verfasser genehmigte Ausgabe von Raphael Löwenfeld. I. Serie, Band 11, Religiös-ethische Schriften, Band I, Jena 1911, S. 66–67. Die Passage, die Rosa Luxemburg beeindruckte, hat folgenden Wortlaut: „der von den Revolutionären vorgeschlagene Ausweg, der darin besteht, daß man gegen Gewalt mit Gewalt kämpft, ist offenbar unmöglich. Die Regierungen, die sich bereits im Besitze einer disziplinierten Gewalt befinden, werden die Bildung einer anderen disziplinierten Gewalt nie zulassen.

Der Ausweg ist auch nicht der, wie einige Sozialisten meinen, daß man eine so gewaltige wirtschaftliche Macht schaffen müsse, daß sie die schon gefestigte und sich immer mehr festigende Macht der Kapitalisten besiegen könnte. Niemals werden die Arbeitergenossenschaften mit ihren paar armseligen Millionen imstande sein, gegen die wirtschaftliche Macht der Milliardäre zu kämpfen, die dazu noch durch die militärische Gewalt unterstützt werden. Ebensowenig ist der Ausweg möglich, der von anderen Sozialisten vorgeschlagen wird und in der Gewinnung der Mehrheit im Parlament besteht. Eine solche Parlamentsmehrheit wird nichts ausrichten können, solange sich das Heer in den Händen der Regierung befindet. Sobald sich die Beschlüsse des Parlaments gegen die Interessen der regierenden Klassen richten, wird die Regierung ein solches Parlament auflösen und auseinander treiben, wie es stets geschah und geschehen wird, solange die Regierung über das Heer verfügt.

Auch der Versuch, das Heer durch sozialistische Prinzipien zu infizieren, kann zu nichts führen. Die Hypnotisierung des Heeres wird so geschickt ausgeführt, daß selbst der am freiesten denkende und vernünftigste Mensch, solange er sich im Heere befindet, immer das erfüllen wird, was von ihm verlangt wird.

So bieten denn weder die Revolution, noch der Sozialismus einen Ausweg.

Wenn es einen Ausweg gibt, so ist es der, der bis jetzt nie benutzt worden ist, und der dennoch allein geeignet ist, die ganze, so kompliziert und geschickt eingerichtete Regierungsmaschinerie zu zerstören, vermittels derer das Volk geknechtet ist. Der Ausweg besteht darin, daß man den Militärdienst, noch ehe man unter den verdummenden und demoralisierenden Einfluß der Disziplin gelangt ist, verweigert.“